Wettbewerb in erster Runde

Acht deutsche Städte bewerben sich um den Titel "Kulturhauptstadt Europas 2025"

Das nationale Auswahlverfahren für die 2025 in Deutschland verortete Kulturhauptstadt Europas läuft. Acht deutsche Städte haben sich in einer ersten Runde beworben. Sie alle wollen mittels Kultur die Vielfalt Europas und seine Zusammengehörigkeit erlebbar machen. In allen acht Bewerberstädten stecken dafür enorme Potenziale. Das sollten sie in ihren jeweils auf maximal 60 Seiten begrenzten Bewerbungsbüchern – den sogenannten „Bidbooks“ – zeigen, die sie der Kulturstiftung der Länder vorgelegt haben. Die Kulturstiftung der Länder ist von der Kultusministerkonferenz für das nationale Auswahlverfahren beauftragt worden. Am 12. Dezember 2019 will sie eine „Shortlist“ derjenigen Städte bekannt geben, die es in eine zweite Bewerbungsrunde geschafft haben. Womit die Bewerber punkten wollen, steht in ihren Bidbooks, wobei: Nicht alle Bewerberstädte stellen ihre Bidbooks auch der Öffentlichkeit zur Verfügung. Das erarbeitete Bidbook mit allen Infos und Fakten zu veröffentlichen, ist zwar vonseiten der Europäischen Kommission empfohlen, aber nicht Bedingung.

 

Chemnitz: Aufbrüche, Opening Minds, Creating Spaces

 

Aber klar, dass z. B. Chemnitz stolz seine Bewerbung für alle online lesbar publiziert. Über 200 Menschen aus der Bürgerschaft haben in Chemnitz an der Erstellung des Bidbooks mitgearbeitet. In rund drei Jahren haben sie sich ausgetauscht und ihr Konzept erstellt und allein diese breite und intensive Bürgerbeteiligung ist bereits ein wichtiger Baustein für die Bewerbung. Das Tun der Menschen in Chemnitz steht im Vordergrund, stellt Ferenc Csák, Projektleiter der Chemnitzer Bewerbung, heraus: „Wir wollen gemeinsam mit Europa Aufbrüche wagen. Wir wollen sowohl Chemnitz als auch Europa fragen: Was verbindet uns? Wie können wir gemeinsam ein lebenswertes Europa gestalten?“

 

Für die kreisfreie Stadt, mit etwa 250.000 Einwohnern die drittgrößte im Freistaat Sachsen, ist die Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas eine große Chance. Chemnitz will eine selbstbewusste europäische Stadt werden und man darf es als eine Stärke der Bewerbung interpretieren, dass Chemnitz diesen Wunsch offen kommuniziert. Denn schlechtes Image in der jüngsten Vergangenheit – als gesellschaftliche Konflikte, bewusste Provokationen und auch offene Gewalt in Chemnitz zutage traten – haben keineswegs nur der Stadt geschadet, sondern letzten Endes den demokratischen Werten und damit auch Europa. „Es wird darauf ankommen, ob wir es schaffen, die Bindungskräfte zu stärken“, sagte passend dazu Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig bei der Kurzpräsentation der Bewerbungen Anfang Oktober in Berlin. Die Kräfte, die die Gesellschaft durch Populismus auseinandertreiben wollen, sollten nicht die Oberhand gewinnen. Chemnitz setzt dabei auf die integrative Kraft der Kultur – und zwar auf den proeuropäischen Einigungsprozess.
Als Motto schreibt sich Chemnitz2025 „Aufbrüche“ auf die Fahnen.

 

Tatsächlich hat die Stadt, die einst Kameniz hieß, dann Chemnitz, dann Karl-Marx-Stadt genannt wurde und schließlich wieder Chemnitz heißt, viele Brüche und innerhalb weniger Jahrzehnte verschiedene Gesellschaftssysteme erlebt. Nach 1989 hat z. B. rund ein Viertel der Bevölkerung aus den verschiedensten Gründen die Stadt bzw. das Umland verlassen, umgekehrt sind viele neue Menschen hinzugezogen. Die Wanderungsprozesse und die damit einhergehenden Aufbrüche sind kennzeichnend für die ostdeutsche Stadt, die im Zuge der Bewerbung um den Titel ihre historisch gewachsene Kulturregion – mit dem Umland Erzgebirge, sowohl mit Industrie als auch ländlichem Raum – erweitern wird. 25 Kommunen gehören bereits dazu, von Aue im Osten bis Hainichen im Westen. Im November 2018 haben die Gemeinde- und Stadträte sowie Oberbürgermeister und Bürgermeister der Kommunen in einer Ratssitzung beschlossen, gemeinsam mit Chemnitz eine Strategie der Kulturregion zu entwerfen. In dieser neuen Kulturregion leben dann immerhin 500.000 Einwohner, die via Straßenbahnen und Kultur miteinander verbunden werden. Der Schienen-ÖPNV wird ausgebaut, erste Strecken dieses „Chemnitzer Modells“ sind bereits realisiert. Die Lebensqualität im ländlichen Raum soll wachsen, sodass sich nicht zuletzt auch dort mehr Start-ups und Unternehmen ansiedeln. Kultur als ökonomischer Motor – ob diese wirtschaftliche Aufbruchsperspektive die Jury überzeugt, bleibt abzuwarten.

 

Gute Bewertung allerdings wird Chemnitz aufgrund seiner bestehenden kulturellen Infrastruktur erhalten. Das Theater Chemnitz als Fünf-Sparten-Haus, die Kunstsammlungen, Schloßbergmuseum, Henry van de Velde-Museum und viele weitere sind traditionsreiche staatliche Institutionen, die zusammen mit weiteren etwa 100 geförderten Kultureinrichtungen in freier Trägerschaft das Kulturleben der Stadt prägen. Zusammen bieten diese Einrichtungen über 15.000 Veranstaltungen bzw. Projekte pro Jahr an. Private Initiativen, wie etwa mehrere unterschiedliche Festivals, belegen die bürgerschaftliche Stabilität der Chemnitzer Kultur, auf die es ankommt.

 

Die Chemnitzer Bewerbung arbeitet sich systematisch an den 38 Fragen der öffentlichen Ausschreibung für die Kulturhauptstadt Europas ab, die verpflichtend beantwortet werden mussten. Entsprechend strukturiert ist auch das Chemnitzer Bidbook, das guten Einblick in kulturpolitische Zusammenhänge ermöglicht. So wird etwa die im Januar 2019 im Stadtrat beschlossene Kulturstrategie 2018 bis 2030 „Kultur Raum geben“ skizziert und wie diese langfristig im Zusammenhang mit der Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas weiterentwickelt werden kann. Die TU Chemnitz und die Verzahnung zwischen Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft spielen hier eine wesentliche Rolle, wiederum neue Jobs entstehen zu lassen. Insbesondere offenbart aber die Chemnitzer Langzeitstrategie, dass man die eingeführte Dialog- und Feedbackkultur, sprich Partizipation der Kulturakteure, Kulturpolitik und Gremien, in Zukunft festigen und ausbauen will. Ein Beispiel hierfür ist das Bürgerdialog-Format „Im Gespräch bleiben“ zu Zukunftsthemen der Chemnitzer Stadtentwicklung, das letztes Jahr als Forum in der ehemaligen Hartmannfabrik initiiert wurde, als über mögliche Interventionsflächen der Kulturhauptstadt Europas debattiert wurde – zwischen Experten und der interessierten Öffentlichkeit. Transparent und unter Mitbeteiligung der Bürgerschaft begreift die Stadt auch das künstlerische Programm von Chemnitz2025, das aufgeteilt in drei thematische Felder, Arbeit, Räume und Spuren, entstehen wird. In einem Call werden Kunstschaffende und Kulturakteure aller Disziplinen zur kreativen Auseinandersetzung eingeladen. Derzeit laufen auch schon 13 Projekte, darunter etwa ein Internationales Theaterfestival „Nonstop Europa!“ oder das Stefan und Inge Heym-Forum. „Im Fall einer Nominierung auf die Shortlist werden die Projekte deutlich ausgeweitet“, sagt Csák. „Fortgesetzt oder umgesetzt werden sie aber auf jeden Fall, unabhängig vom Ausgang des Bewerbungsverfahrens.“ 2019 hat Chemnitz 53,6 Millionen Euro für Kultur ausgegeben, was 6,72 Prozent seines Jahresgesamtbudgets entspricht. Zusätzlich zum regulären Kulturetat hat der Chemnitzer Stadtrat 2017 beschlossen, das Projekt „Kulturhauptstadt Europas 2025“ mit weiteren 1,2 Millionen Euro bis 2020 zu unterstützen. Und weiter bis 2025 sollen 8,8 Millionen ins operative Budget für Chemnitz2025 und weitere knapp 20 Millionen Euro in Kapitalausgaben rund um Chemnitz2025 fließen. Die Zahlen können sich sehen lassen. Fürs operative Budget im Veranstaltungsjahr und darüber hinaus bis 2027 sind 60,3 Millionen Euro geplant. Allerdings sind hier geförderte 30 Millionen Euro Bundesmittel einkalkuliert, die wirklich noch nicht sicher sind.

Sven Scherz-Schade
Sven Scherz-Schade ist freier Journalist in Karlsruhe und arbeitet unter anderem zu den Themen Kultur und Kulturpolitik für den Hörfunk SWR2.
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