Lob der Provinz

Das Leben vor Ort tritt in den Fokus der Kulturhauptstadt Europas 2025

Zugegeben. Es ist schier unmöglich, bei manchen Bewerbungsschreiben um die europäische Kulturhauptstadt nicht Tränen zu lachen. Da wird ständig von Aufbrüchen und neuen Perspektiven geredet; von Europa und der Zukunft, von Räumen und den Brücken. Doch wohin die führen sollen, bleibt offen. Vielleicht muss man das in diesem Wettbewerb so formulieren in der berechtigten Hoffnung, dass den Entscheidungskommissionen auch nicht viel Besseres einfällt. Dem Schriftsteller Marko Martin jedenfalls hat das vor Jahren den Stoßseufzer entlockt, man möge uns diese Kulturhauptstädte lieber ersparen, an die sich hinterher keiner erinnern kann. Oder weiß man wirklich noch, wann Turku oder Patras auf dem Zettel war?

 

Für das Jahr 2024 ist es jedenfalls Bad Ischl – neben Tartu und Bodø, eine Entscheidung, die man habsburgischer kaum nennen kann. Sisi war dort und Franz Josef und die dazugehörige Kaiser-Villa gibt es auch – mehr Operette geht nicht. Auch der Wolfgangsee ist nicht weit und von Ferne kann man womöglich das Weiße Rössl wiehern hören. In Bad Ischl selbst fühlt man sich dagegen wie vom Blitz getroffen, wie der Inhaber des zentral gelegenen K.u.K.-Hofbeisls sagt. Mit dem Zuschlag hatte er wohl nicht gerechnet.

 

Das Nachsehen unter den österreichischen Bewerbern hat neben St. Pölten die konkurrierende Gemeinde Dornbirn, den meisten Durchreisenden in die Schweiz wohl eher durch das 10-Tage-Pickerl für ein paar Autobahnkilometer vertraut. Gegen Bad Ischl hatte Dornbirn keine Chance. Was Europa dadurch entgangen ist, kann man in den FAQs der Bewerbungsunterlagen nachlesen, den Frequently Asked Questions, wie man das heute nennt. Dornbirn präsentiert sich da als polyzentrischer Ballungsraum für neue Denkweisen und Perspektiven, in dem man nicht nur die viel beschworene Identität in der Vielfalt finden kann, sondern auch eine Stadtbibliothekarin, die sich als gute Gastgeberin sieht. „Outburst of Courage“ hätte ihr Motto werden sollen, was man vorsorglich mit „Mutausbruch“ übersetzt hat. Spätestens jetzt weiß man, warum es Bad Ischl geworden ist.

 

Wie mutlos wirken dagegen die deutschen Bewerber für das Folgejahr 2025, Gera etwa, das „Europa im Konkreten und im Besonderen“ verkörpern will; oder Chemnitz, wo man schlimmstenfalls damit rechnet, dass es auch zu Provokationen, Grenzüberschreitungen und offene Gewalt kommen kann. Magdeburg will sein Vakuum füllen, den Leiter des Nürnberger Bewerbungsbüros treibt die Sorge um, dass einem zu Nürnberg überhaupt nichts mehr einfällt; und Hildesheim gibt sich gänzlich bescheiden: „Sie wissen es“, heißt es in der Bewerbungsschrift, „und wir wissen es auch: Wir sind Provinz“. „Ja mei“, würde der Bayer sagen, „so ist das halt mit diesen Kulturhauptstädten“. Die schönen Tage von Athen, der ersten Titelträgerin, sind ohnehin vorüber und die besagten Eulen sollte man heute lieber dorthin tragen, wo sie dringender gebraucht würden: nach Venedig beispielsweise, das gerade in den Fluten versank. Aber das heißt eben nicht Zukunft und Aufbruch, sondern Vergangenheit, und von der will man immer weniger wissen in unseren „präsentistischen Zeiten“ nach Francois Hartog. Schweden macht es uns vor. Dort sollen Antike und Mittelalter überhaupt aus dem Schulbuch verschwinden.

 

In diesem Kulturstadtwettbewerb, den die legendäre Melina Mercouri in ihrer Zeit als griechische Kulturministerin einst ins Leben gerufen hat, ging es freilich immer schon um konkurrierende Vorstellungen, was man mit dem erhofften Geldsegen denn sinnvollerweise anfangen könnte: die ganz große Bühne bespielen und die eigene Stadt wenigstens einmal in ein bengalisches Licht tauchen? Oder die Mittel besser nachhaltig einsetzen, um für die Zukunft gerüstet zu sein. In Glasgow z. B. hat man sich früh für letztere Variante entschieden, weshalb man sich an diese Kulturstadt auch kaum noch erinnern kann. Aber man sieht die kluge Politik dort vor Ort. Glasgow hat den Titel genutzt, um aus einer verrußten Industriemetropole zu einer Stadt der Postmoderne zu werden. Es ging um Anschlussfähigkeit an das moderne Lebensgefühl, um neue Technologien und die Arbeit von morgen. Die Stadt hat sich darüber – wie man sagt – neu erfunden; zur spektakulären Kulturhauptstadt Europas wurde sie nicht.

 

Aber vielleicht ist dieser Titel überhaupt irreführend. Vielleicht geht es schon gar nicht mehr um die Metropolen, wo sich jenes fluide Lebensgefühl breitgemacht hat, das Karl-Heinz Bohrer am Beispiel Londons beschrieb. Ein London, das irgendwann sein britisches Gesicht verlor und zu einer Art Raumschiff wurde, ortlos schwebend über dem eigenen Land.

 

Vielleicht sind es heute eher die kleineren Städte, die den Titel einer Kulturhauptstadt Europas verdienen; schlichte Gemeinwesen, die für das stehen, was sie sind; und nicht ächzen müssen unter einer Bedeutung, die ihnen von kulturpolitischen Wanderpredigern auferlegt werden. Das grenznahe Zittau ist so ein Beispiel, die wohl bescheidenste Bewerberin unter den deutschen. Dort hat man verstanden, dass die geografische Lage das „stärkste Argument“ ist im Vergleich mit den anderen. Dort wäre eine „Brücke“ eben keine Metapher; dort würde sie Europa wirklich verbinden – über die alte Neißegrenze hinweg.

 

„Small ist beautiful2, hieß einst ein berühmtes Buch des Wirtschaftsphilosophen E. F. Schumacher aus den 1970er Jahren. Dieses Buch wird gerade wiederentdeckt. Es macht darauf aufmerksam, dass die Antwort auf die weltweite Klimakrise nicht allein in globalen Strategien besteht, sondern auch in der Rückbesinnung auf das menschliche Maß. Vielleicht wird Europas oft beschworene Vielfalt dort am Sichtbarsten, wo man am wenigsten über sie redet. Das nachmoderne Europa dürfte eben nicht nur eines der großen Metropolen sein, wie London, Paris, Prag oder Madrid, sondern auch eines der historischen Landschaften wie Katalonien und Schottland, Schlesien oder die Lombardei.

 

Vielleicht liegt in dieser Konkretheit die künftige Chance des Kulturstadttitels, zumindest aber die Erkenntnis, dass es nicht mehr um spektakuläre Bedeutungen geht, sondern um das konkrete Leben vor Ort. Womöglich war die ungenannte Bibliothekarin der Stadtbücherei von Dornbirn ihrer Zeit nur voraus. Nur Gastgeberin wollte sie sein und meinte doch das Lob auf die Provinz.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2019-01/2020.

Johann Michael Möller
Johann Michael Möller ist Ethnologe und Journalist. Er war langjähriger Hörfunkdirektor des MDR.
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