Migration – Integration, eine neue alte Aufgabe

Rede von Prof. Dr. Markus Hilgert auf der Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration am 29.05.2018

3. Ein Fallbeispiel: Hammurapi von Babylon
Welche Konsequenzen diese Sichtweise auf Kultur haben kann und warum wir gut beraten sind, wenn wir mit Blick auf die gesellschaftliche Grundaufgabe der kulturellen Integration von der transkulturellen Verfasstheit des Kulturellen ausgehen, will ich Ihnen anhand eines konkreten Beispiels demonstrieren. Es handelt sich um eines der bekanntesten Kulturzeugnisse aus dem antiken Zweistromland. Ich spreche vom sogenannten ‚Gesetzeskodex‘ des altbabylonischen Herrschers Hammurapi von Babylon, der im 18. Jh. v. Chr. regierte. Die Stele aus schwarzem, glatt poliertem Diorit, die 2,25 m hoch und umlaufend mit Keilschrift beschrieben ist, gilt weithin als Beispiel par excellence für die ‚babylonische Kultur‘ dieser Epoche. Doch fragt man im Detail nach der physischen Beschaffenheit des Objekts, den Charakteristika der Keilinschrift sowie nach Format und Sprachstil des auf der Stele eingemeißelten Textes, erweist sich eine eindeutige ‚kulturelle Identifizierung‘ des Objektes als unmöglich. Hinzu kommt, dass der Auftraggeber der Inschrift, Hammurapi von Babylon, ein Herrscher mit ‚Migrationshintergrund‘ und einem ‚fremdsprachigen‘ Namen war. Doch dazu später mehr. Lassen Sie uns zunächst in aller Kürze das Kunstwerk selbst betrachten, das heute im Louvre in Paris zu sehen ist.

 

Der schwarze, harte Dioritstein, aus dem die Stele besteht, war ein Import aus dem fernen ‚Ausland‘ in das vergleichsweise steinarme Mesopotamien, den heutigen Irak. Höchstwahrscheinlich ließ Hammurapi den Diorit aus dem antiken Land Magan, dem heutigen Oman, einführen. Er knüpfte damit an eine alte Tradition an, die besonders gut für städtische Zentren des sumerischen Südmesopotamien in der zweiten Hälfte des dritten Jahrtausends v. Chr. nachzuweisen ist. Gudea von Lagasch, der im 22. Jahrhundert v. Chr. regiert, lässt beschriftete Statuen seiner Person in just diesem Stein ausführen und hebt in vielen seiner Gedenkinschriften stets den Import des kostbaren Materials aus Magan hervor. Implizit demonstriert Gudea damit auch seine politische Kontrolle über den Fernhandel in der Region des arabisch-persischen Golfs, ein weiterer kultur- und traditionsstiftender Diskurs, an den Hammurapi durch die Wahl des Schriftträgermaterials anknüpft.

 

Auch die mit Keilschrift beschriebene Stein-Stele ist keine Erfindung Hammurapis, sondern vielmehr seine Interpretation einer kulturellen Form, die bereits Jahrhunderte vor ihm in verschiedenen Gesellschaften des Zweistromlandes im Bereich der Selbstdarstellung des Herrschers eingesetzt wird. Das am Kopf der Stele eingemeißelte Halbrelief, das Hammurapi vor dem thronenden Sonnengott Schamasch, dem Gott der Gerechtigkeit, zeigt, ist schließlich die Adaption eines Bildtopos, der seit dem 22. Jahrhundert v. Chr. vor Allem in der religiös motivierten Kleinkunst des südlichen Mesopotamien verbreitet war.

 

Noch komplexer ist der Befund, den die Analyse der Keilinschrift liefert. Zunächst könnte allein die Verwendung der Keilschrift schon als ‚transkulturelle Meisterleistung‘ gelten. Denn das Zeichensystem erscheint zum ersten Mal im späten vierten Jahrtausend v. Chr. in der westlichen Golfregion zur Darstellung der linguistisch isolierten Ergativsprache Sumerisch. Hammurapi indes nutzt dieses Zeichensystem, um einen Text in akkadischer Sprache aufzuschreiben. Akkadisch ist jedoch die älteste, inschriftlich bezeugte semitische Sprache und, sprachtypologisch betrachtet, vom Sumerischen ebenso weit entfernt wie das Deutsche von einer Bantu-Sprache. Die von Hammurapi verwendete, an den zeitgenössischen akkadischen Sprachgebrach stark angepasste Version der Keilschrift ist in ihrem Erscheinungsbild jedoch alles andere als zeitgenössisch. Denn die Zeichenformen lassen das Bemühen erkennen, sich an die kursive Keilschrift der auf Tontafeln geschriebenen sumerischen Rechts- und Verwaltungsurkunden des ausgehenden dritten Jahrtausends anzunähern. Eine markante Ähnlichkeit besteht außerdem zum Duktus der Statueninschriften, die der bereits erwähnte Gudea von Lagasch im 22. Jahrhundert v. Chr. anfertigen ließ.

 

Besonders auffällig ist schließlich die Anordnung der Keilschriftzeichen auf dem Schriftträger. Aus der Sicht eines Betrachters, der vor der Stele steht, erscheinen sie nicht in der zeitgenössisch sonst üblichen Schriftrichtung von links nach rechts, sondern im Uhrzeigersinn um 90 Grad gedreht, in vertikal und horizontal begrenzten Fächern, die von oben nach unten sowie von rechts nach links zu lesen sind. Diese Eigentümlichkeit in der Anordnung der Keilschriftzeichen, die bereits in akkadischen und sumerischen Herrscherinschriften des dritten Jahrtausends v. Chr. nachzuweisen ist, könnte den Versuch darstellen, die Zeichenausrichtung und -anordnung der ältesten Keilschrifttexte überhaupt zu imitieren. Diese wurden im späten vierten und frühen dritten Jahrtausend v. Chr. im Süden des Zweistromlandes mit Griffeln auf Tontafeln geschrieben wurden, um administrative Vorgänge und Wortlisten schriftlich zu fixieren.

 

Zusammenfassend könnte man also sagen, dass die materielle Gestalt der Diorit-Stele Hammurapis von Babylon aus der Aneignung und Anpassung mehrerer, ursprünglich voneinander unabhängiger kultureller Formen resultiert, die chronologisch, topographisch und sozial-kulturell verschiedenen Kontexten entstammten. In ein und demselben Objekt wurden diese kulturellen Formen miteinander verschmolzen, amalgamiert, um den zeitgenössischen Betrachtern sowohl die Authentizität und Autorität des Textes als auch insbesondere die ‚kulturelle Kompetenz‘ seines königlichen Auftraggebers zu vermitteln.

 

Analysiert man die etwa 4.000 Zeilen umfassende Inschrift mit sprach- und literaturwissenschaftlichen Methoden, gelangt man zu einem vergleichbaren Befund. In der Regel als ‚Gesetzeskodex‘ klassifiziert, ist der Text aus meiner Sicht anders zu deuten. Bei der berühmten Inschrift des Hammurapi von Babylon handelt es sich um den Rechenschaftsbericht und das politische Testament eines klugen Politikers, der sich eine seit mehreren Jahrhunderten von altorientalischen Herrschern verwendete kulturelle Form angeeignet, sie mit anderen kulturellen Formzitaten kombiniert, in einen neuen Zusammenhang gestellt und damit eine eigene, identitätsstiftende kulturelle Form geschaffen hat.

Markus Hilgert
Markus Hilgert ist Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder.
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