1. Kulturelle Vielfalt heute und damals
Vielleicht geht es Ihnen so wie mir: Von den 15 Thesen zu kultureller Integration und Zusammenhalt gefällt mir eine ganz besonders gut. Meine Lieblingsthese lautet: „Kulturelle Vielfalt ist eine Stärke.
Es gibt zwei Gründe, warum mir dieses Bekenntnis so sehr am Herzen liegt. Zum einen will und kann ich mir nicht vorstellen, in einer Gesellschaft zu leben, in der kulturelle Vielfalt mit dem darin implizierten Respekt vor der kulturellen Identität der oder des Anderen nicht zu den Grundwerten des Zusammenlebens gehört. Zum anderen denke ich als Altertumswissenschaftler beim Begriff „kulturelle Vielfalt“ unweigerlich auch an mein eigenes Fachgebiet, die Altorientalistik. Ihre Vertreterinnen und Vertreter erforschen die Sprachen und Kulturen des antiken Zweistromlandes, das im Wesentlichen mit dem Gebiet der heutigen Staaten Türkei, Syrien und Irak identisch ist. Über mehr als 4.000 Jahre hinweg waren die Gesellschaften des antiken Mesopotamien Orte der kulturellen Vielfalt, des interkulturellen Austauschs, der Zuwanderung und des Sprachreichtums. Es ist sicher kein Zufall, dass die Bibel die Stadt Babylon zum Schauplatz der gottgewollten Sprachverwirrung macht. Schon seit dem frühen zweiten Jahrtausend v. Chr. war die Metropole ein kultureller Schmelztiegel mit überregionaler Bedeutung, ein begehrtes Reiseziel für Händler und Diplomaten, ein Zentrum der Wissenschaft und der Künste.
Kulturelle Vielfalt war zu allen Zeiten ein charakteristisches Kennzeichen des antiken Babylon. Dies bedeutet, dass auch die Gesellschaften des Alten Orients um die Herausforderungen wussten, die kulturelle Vielfalt, die daraus erwachsende Aufgabe der kulturellen Integration sowie der Wettbewerb der Narrative und kulturellen Formen mit sich bringen können. Vor diesem Hintergrund will ich versuchen, mich dem Thema „Migration – Integration“ aus dem Blickwinkel der historischen Kulturwissenschaften anzunähern. Mein Ziel ist, anhand eines konkreten Fallbeispiels aus dem antiken Babylon bestimmte Aspekte kultureller Integrationsprozesse herauszuarbeiten und sie als Thesen in die öffentliche Debatte um Methoden und Formate der kulturellen Integration in unserem Land einzubringen. Dabei treibt mich auch die wissenschaftspolitische Fragestellung an, welchen spezifischen Beitrag historische Kulturwissenschaften zur gesamtgesellschaftlichen Herausforderung der kulturellen Integration leisten können.
2. Kulturelle Integration aus Sicht der historischen Kulturwissenschaften
Die vier Thesen, die ich hier zur Diskussion stelle und im Folgenden zu begründen suche sind:
- Kulturelle Integration ist ein Generationenprojekt.
- Innerhalb einer Gesellschaft verlaufen kulturelle Integrationsprozesse mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
- Kulturelle Integration entsteht aus einem ergebnisoffenen Wettbewerb der Narrative und kulturellen Formen.
- Bedeutende kulturelle Leistungen einer Gesellschaft sind in der Regel das Ergebnis transkulturellen Austauschs.
Wie komme ich zu diesen Behauptungen? Lassen Sie mich mit dem zuletzt genannten Punkt beginnen, der Bedeutung des transkulturellen Austauschs für die kulturelle Identität einer Gesellschaft. Seit Wolfgang Welsch vor mehr als einem Vierteljahrhundert das Konzept der ‚Transkulturalität‘ in die Kulturphilosophie eingeführt hat, ist dieses Konzept zu einem zentralen Bestandteil der poststrukturalistischen und postkolonialen Methodendebatte in den Kultur- und Literaturwissenschaften avanciert. Welschs Betrachtung „heutiger Kulturen“ führt ihn zu folgendem prägnanten Resümee:
„Die heutigen Kulturen entsprechen nicht mehr den alten Vorstellungen geschlossener und einheitlicher Nationalkulturen. Sie sind durch eine Vielfalt möglicher Identitäten gekennzeichnet und haben grenzüberschreitende Konturen. … Angesichts solcher Befunde ist die Verabschiedung des traditionellen Kulturkonzepts mit seinem unheilvollen Doppel von innerem Einheitszwang und äußerer Abschottung auch unter normativen Gesichtspunkten geboten. Es käme künftig darauf an, die Kulturen jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur zu denken“ (Welsch 1995).
Dieses Denken „jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur“ wird für Welsch durch das Konzept der Transkulturalität ermöglicht:
„Kulturen sind intern durch eine Pluralisierung möglicher Identitäten gekennzeichnet und weisen extern grenzüberschreitende Konturen auf. Sie haben eine neuartige Form angenommen, die durch die klassischen Kulturgrenzen wie selbstverständlich hindurchgeht. Das Konzept der Transkulturalität benennt diese veränderte Verfassung der Kulturen und versucht daraus die notwendigen konzeptionellen und normativen Konsequenzen zu ziehen“ (Welsch 1995).
Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Transkulturalität hat in den historischen Kulturwissenschaften einen entscheidenden Perspektivwechsel bewirkt. Als radikaler Gegenentwurf zu einem ethnisch und nationalstaatlich geprägten Kulturverständnis lenkt sie die Aufmerksamkeit der kulturwissenschaftlichen Forschung auf die komplexen, vielschichtigen Prozesse des Austauschs, der Aneignung, der individuellen und kollektiven Sinnzuschreibung, der Anpassung sowie der Einbettung in variierende soziale Praktiken, die jedem ‚Kulturzeugnis‘ – also Artefakten und Diskursen – zugrunde liegen. Von einzelnen Akteuren oder Gruppen wahrgenommene oder behauptete ‚kulturelle Identitäten‘ erscheinen danach als Produkte eines nie abgeschlossenen, sich stetig verändernden Umgangs mit und diskursiven Aushandelns von Personen, Dingen und Konzepten, die zunächst als ‚fremd‘ klassifiziert werden. Eine eindeutige kulturelle, ethnisch, territorial oder nationalstaatlich begründete Zuordnung von Akteuren, Dingen und Diskursen erweist sich somit aus Sicht der historischen Kulturwissenschaften weder als praktikabel noch als methodisch sinnvoll.