Migration – Integration, eine neue alte Aufgabe

Rede von Prof. Dr. Markus Hilgert auf der Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration am 29.05.2018

5. Kultur ist nichts Statisches
Es gibt allerdings auch noch eine tiefergehende Lehre, die wir aus unserem Zeit- und Raumsprung in das antike Mesopotamien ziehen können. Aus Sicht der historischen Kulturwissenschaften ist Kultur nichts Statisches oder Begrenztes. Kultur ereignet sich stets aufs Neue. Kultur ist ein nie abgeschlossener Prozess der Aushandlung, den einzelne Akteure in der Begegnung und im Umgang mit anderen Akteuren, Objekten und Diskursen aktiv gestalten. Im Wettbewerb der Narrative und kulturellen Formen kann zunächst ‚als fremd‘ Wahrgenommenes in einen neuen Handlungs- und Diskurszusammenhang gestellt, dadurch erfasst und schließlich auch ‚als Eigenes‘ begriffen werden. Was einst als Summe klar voneinander zu scheidender Kulturen betrachtet wurde, erscheint danach als entgrenztes, dynamisches, sich kontinuierlich veränderndes Geflecht von zahllosen Praktiken der Rezeption, Integration, Segregation, Assimilation, Adaption oder Amalgamierung, die je nach Ort, Zeit und Akteuren spezifisch sind.

 

Was bedeutet dies für die Herausforderung kultureller Integration in Deutschland sowie in Europa? Ich denke, wir sollten davon ausgehen, dass all das, was wir gemeinhin als charakteristisch und unterscheidend für unsere kulturelle Identität halten, nicht mehr, aber auch nicht weniger ist als das Ergebnis nie abgeschlossener Prozesse der Rezeption, Assimilation oder Adaption, die je nach Ort, Zeit und Akteuren unterschiedlich verlaufen. Deutschland und Europa sind an jedem Ort und zu jeder Zeit anders, ein weitverzweigtes Geflecht von dynamischen Praktiken der Aushandlung. Dieses Geflecht ist zwangsläufig umso widerstandsfähiger und belastbarer, je häufiger, vielfältiger, flexibler und adaptiver diese Prozesse sozial-kultureller Aushandlung sind. Der Blick der historischen Kulturwissenschaften in die Menschheitsgeschichte – insbesondere in die mehr als viertausendjährige Geschichte des Alten Orients – bestätigt, dass langfristig gerade diejenigen Gesellschaften besonders erfolgreich waren, die diese stetige kulturelle Aushandlungs- und Integrationsleistung über lange Zeiträume hinweg erbracht haben. Die kulturwissenschaftliche Forschung zeigt außerdem, dass Gesellschaften und ihre herausragenden kulturellen Leistungen stets auch auf transkulturellem Erbe fußen. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass in Zukunft unverwechselbar ‚Deutsches‘ und unverwechselbar ‚Europäisches‘ nur dann entstehen und bestehen kann, wenn Deutschland und Europa weiterhin Orte transkulturellen Austauschs bleiben und die Bereitschaft aufbringen, die transkulturellen Angebote globaler Vernetzungsprozesse anzunehmen und produktiv für sich zu nutzen.

 

Voraussetzung dafür ist, dass wir zunächst den mutigen und offenen Umgang mit der Herausforderung kultureller Vielfalt einüben. Denn kulturelle Vielfalt ist nicht nur eine Stärke. Vielmehr bedarf sie auch der Stärke, wenn eine Gesellschaft durch die Fliehkräfte wiederstreitender Narrative nicht aus den Angeln gehoben werden soll. Stark sind wir aber dann, wenn wir im Wissen um das eigene materielle und immaterielle Kulturerbe kompromisslos für sozial-kulturelle Grundwerte einstehen, wenn wir Nicht-Verhandelbares klar benennen und wenn wir selbst zahlreiche kulturelle Identifikationsangebote machen, die im globalen Wettbewerb der kulturellen Ausdrucksformen attraktiv und konkurrenzfähig sind.

 

Notwendig ist dazu vor allem ein breit angelegter Kulturdialog aller gesellschaftlichen Gruppen. Nur so können diejenigen kulturellen Formen identifiziert werden, die langfristig unverzichtbar sind für die kulturelle Identität und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Dieser gesamtgesellschaftliche Kulturdialog wird nicht nur den interkulturellen Austausch und die kulturelle Integration fördern. Er wird auch der kulturellen Selbstvergewisserung unserer Gesellschaft dienen und sie damit zukunftsfähig machen.

 


 

Zitierte Literatur
Klein, J.
1997 The God Martu in Sumerian Literature, in: I. L. Finkel and M. J. Geller, Sumerian Gods and Their Representations. Cuneiform Monographs 7, 99–116.

 

Streck, M. P.
2000 Das amurritische Onomastikon der altbabylonischen Zeit. Band 1. Die Amurriter. Die onomastische Forschung. Orthographie und Phonologie. Nominalmorphologie. Alter Orient und Altes Testament 271/1.

 

Welsch, W.
1995 Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen, in: Institut für Auslandsbeziehungen (ed.), Migration und Kultureller Wandel, Schwerpunktthema der Zeitschrift für Kulturaustausch, 45/1, 39–44.

Markus Hilgert
Markus Hilgert ist Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder.
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