Macht mal halblang

Die Dauer-Empörtheit Rechter wie Linker in öffentlichen Debatten

Kürzlich hat sich die Süddeutsche Zeitung (SZ) ihres langjährigen Karikaturisten Dieter Hanitzsch entledigt. Nicht etwa seiner 85 Lenze wegen. Das wäre altersdiskriminierend. Auch nicht wegen einer angeblich antisemitisch zu verstehenden Zeichnung, wie die Chefredaktion entschuldigend hinterherschob. Die hatte sie ja ohne Beanstandung abgedruckt. Sondern, weil sich einige in den „sozialen“ Medien über die Karikatur heftig erregten und aus ihrer Veröffentlichung einen vermeintlichen Skandal produzierten.

 

Was hatte Hanitzsch Anstößiges zu Papier gebracht? Er hatte Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu – nicht gerade ein internationaler Sympathieträger – im Kleid der israelischen Gewinnerin des Eurovision Song Contests (ESC) mit einer Rakete mit Davidstern in der gereckten Hand und dem Spruch „Nächstes Jahr in Jerusalem“ gezeichnet. Dazu – jetzt kommt‘s! – mit übergroßen Ohren und Nase, in der Tat antijüdische Stereotype seit „Stürmer“-Zeiten. Aber macht das die Karikatur schon antisemitisch?

 

Sicherlich ist Hanitzsch zuzustimmen, dass die Zeichnung nicht gerade zu seinen besten zählt. Doch Überzeichnungen sind nun mal das Stilmittel seiner Wahl und generell Wesensmerkmal solcher Werke. Sonst hätten sie keinen Pep. Und von witzlosen, uninspirierten Karikaturen wimmelt es in deutschen Gazetten genug. Genauso wie von humorloser Comedy im TV.

 

Natürlich darf man über Geschmack streiten. Doch ohne jede Ahnung der Geschichte des Judentums, des Zionismus und des ewigen Nahostkonflikts sollte man gerade in Deutschland mit seiner antisemitischen Tradition und den neu zugewanderten „Judenhassern“ aus dem arabisch-islamischen Kulturraum nicht sein. Schon gar nicht, wenn man sich anmaßt, sich zum Scharfrichter über einen kreativ Schaffenden zu erheben.

 

Denn Netanjahu droht im Verbund mit dem obersten US-Militärherrn Donald Trump ja tatsächlich dem Iran mit militärischer Gewalt im Atomkonflikt, um von den Korruptionsermittlungen gegen sich abzulenken, die ihn in Gefahr bringen. Der „Sieg“ im ESC kam ihm da wahrscheinlich sehr recht – das hat Hanitzsch zurecht aufgespießt. Von wegen Klischee jüdischer Kriegstreiber! Und der Davidstern auf der gezeichneten Rakete ist nun mal das Nationalsymbol des jüdischen Staates – nicht nur Brandmarke der Judenfeinde.

 

Der Ausspruch „Nächstes Jahr in Jerusalem“ wiederum gibt nicht nur wieder, dass der ESC 2019 im diesjährigen Gewinnerland stattfinden wird – also vermutlich in der umkämpften israelischen Hauptstadt, die Trump gerade durch die Verlagerung der US-Botschaft dorthin faktisch anerkannt hat. Er spielt auch auf die zionistischen Auswanderer – vor allem aus Nazi-Holocaust-Deutschland nach Palästina während der britischen Besatzung – an, die sich mit diesem Hoffnungsgruß zu begrüßen pflegten; ihre Nachfahren feierten gerade den 70. Jahrestag der Gründung Israels. Also eine Menge Inhalt in einer kleinen, recht harmlosen Zeichnung. Aber was machten die Leitung der SZ, die sich führende deutsche Tageszeitung nennt, und ihre Kritiker? Sie stempelten Hanitzsch zum tumben Antisemiten ab, ohne ihm auch nur die Chance zu geben, sich vor seiner Entlassung öffentlich zu erklären. Wenn seine Zeichnung aber so übel sein soll: Weshalb haben das die verantwortlichen Redakteure und „Wiederholungstäter“ nicht erkannt, bevor sie sie abdruckten, wie schon 2014 die eines anderen Karikaturisten, die den (jüdischen) Facebook-Chef Mark Zuckerberg als Krake mit Hakennase zeigte? Ein in diesem Fall tatsächlich eindeutiges, plattes Stereotyp antijüdischer Verschwörungstheoretiker seit NS-Zeiten.

 

In Wahrheit verbirgt sich hinter dem Skandälchen um den gefeuerten Karikaturisten ein ganz anderes Stereotyp: das sich abnutzende Empörungsritual vermeintlich moralisch Hochstehender rechts wie links und in der gesellschaftlichen Mitte, die sich nur zu gerne bei nichtigsten Anlässen über Höherstehende ereifern, um sie in den Staub zu werfen und sich selbst über sie zu erheben. Psychiater nennen so etwas Narzissmus, überzogene, krankhafte Selbstbezogenheit von Menschen mit niedrigem Selbstbewusstsein. Und womöglich Sublimierung eigener antisemitischer Ressentiments. Biblisch gesprochen: „Was siehst du den Splitter im Auge Deines Nächsten, und siehst nicht den Balken im eigenen?“.

 

Das ist leider ein Merkmal unserer heutigen parzellierten, individualisierten Gesellschaft, die dem Einzelnen keine moralischen Gewissheiten und keine Anerkennung in einer sozialen Gruppe mehr garantiert. Also suchen auf sich Geworfene in der Abgrenzung von anderen Selbstvergewisserung. In diesem Fall nach dem Motto: „Wenn ich erkenne, dass die Karikatur antisemitisch ist, bin ich ein guter Mensch! Und der Zeichner böse. Selbst wenn ich bei anderer Gelegenheit Israel gerne regelmäßig scharf kritisiere“ – häufig Form eines verkappten Antisemitismus. Das hat allerdings Kindergartenniveau. Wie auch das billige Verhalten der SZ-Chefredaktion, den plötzlich unliebsamen Zeichner aus ihrem Spielkreis zu verbannen. Schließlich mochte sie nicht selbst am Pranger stehen, an den sie viel lieber andere stellt.

 

Jan Böhmermann hat vor einem Jahr in einem grässlichen Pennälergedicht den türkischen Gewaltherrscher Recep Tayyip Erdoğan einen „Ziegenficker“ genannt. Weil der das zu Recht als beleidigend und antiislamisch empfand, zeigte er ihn an. Da Erdoğan hierzulande noch weniger Sympathie genießt als Netanjahu, adelten die Medien Böhmermann flugs zum mutigen Verteidiger der Meinungs- und Pressefreiheit. Als gehörte irgendwas dazu, so etwas im deutschen Fernsehen abzusondern!

 

Die Würde des Menschen jedoch ist das höchste zu verteidigende Gut. Sie steht laut unserer Verfassung jedem Menschen zu. Auch schrecklichen Autokraten wie Erdoğan, Putin oder Trump. Gerade das unterscheidet unsere wertegebundene Demokratie von Unrechtsstaaten.

 

Wenn die Menschenwürde erkennbar verletzt ist, sollte die Justiz einschreiten. Ansonsten muss Kunst frei sei. Frei auch von Zensur selbsterklärter Moralwächter. Und sie darf, ja sie sollte Anstoß erregen.

 

„Niemand von Ihnen hat das Recht, nicht beleidigt zu werden!“, hat die frühere US-Außenministerin Condoleezza Rice, eine Schwarze, kürzlich ihren Studenten in Princeton zugerufen. Das gilt genauso für linke wie rechte Dauerempörte. Erst recht für politische Verantwortungsträger. Und für Chefredakteure. Sonst: Nächstes Jahr in Karlsruhe!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2018.

Ludwig Greven
Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor.
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