Unbedarft: Warum wollen die Briten die Europäische Union verlassen?

Warum wollen die Briten denn die Europäische Union verlassen? Das ist doch verrückt. Immer wieder höre ich die Frage, doch ist es aus der Sicht der Briten denn wirklich so verrückt? Natürlich, wenn man die wirtschaftlichen Vorteile der EU betrachtet, wenn man bedenkt, dass die jahrhundertelangen kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa fast verschwunden sind. Diese Europäische Union ist ein Erfolgsmodell und trotzdem werden die Briten sie verlassen. Ja, weil ihnen ein unbändiger Freiheitsdrang in ihre kulturelle DNA geschrieben ist. Ein Freiheitsdrang, der über viele Jahrhunderte gegen die verschiedensten Bedrängungen von außen entstanden ist.

 

Natürlich ist die Europäische Union kein Aggressor, kein Besatzer, aber in ihrer manchmal nur schwer verstehbaren Regelungswut verletzt sie nicht selten kulturelle Befindlichkeiten. Es ist schon erstaunlich, wie wenig Rücksicht auf die kulturellen Eigenheiten der europäischen Völker von Brüssel, aber auch von unserer Regierung über den Hebel Brüssel genommen wird.

 

Der Grund dafür, so glaube ich, liegt in der kulturellen Unbedarftheit beträchtlicher Teile der politischen Eliten. Hoch ausgebildet und mehrsprachig jetten sie pausenlos um die Welt – und glauben, die kulturellen Unterschiede hinter sich gelassen zu haben. Alles wächst zu einem Ganzen zusammen, wenn man sich mit den politischen Eliten der anderen Länder trifft und sich über die Zukunft der Welt einig ist.

 

Doch weder kann man die eigene kulturelle Prägung einfach ablegen, noch können die anderen das. Die kulturelle DNA verändert sich aber viel langsamer, als es viele glauben. Und sind wir ehrlich, bei der Ausbildung unserer Eliten wurde auf vieles Wert gelegt, nicht aber auf die kulturelle und historische Bildung.

 

Deshalb können wir die Briten nicht in der EU halten, weil wir ihre Kultur nicht genügend verstehen. Deshalb können wir die ausgestreckte Hand der Franzosen nicht angemessen ergreifen, weil wir natürlich kulturell verschieden sind und diese Verschiedenheit als wirkliche Chance der Gemeinsamkeit nicht sehen.

 

Deshalb verstehen wir zunehmend die Polen und Ungarn nicht mehr, weil wir eigentlich Dankbarkeit für ihre Aufnahme in die EU und die massive finanzielle Unterstützung erwarten, sie unseren Werten, wie Kunst und Meinungsfreiheit, aber zunehmend mit kulturellen Argumenten die kalte Schulter zeigen.

 

Wir brauchen mehr kulturelle Botschafter in den Ministerien und Parlamenten in Brüssel und Berlin, die sich ihrer eigenen Kultur sicher sind und die Kultur der anderen kennen und schätzen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2019.

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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