Mit der Sprache fängt es an

Gehirnwaschmittel totalitärer Herrscher, demokratischer Politiker, voreingenommener Journalisten, Begriffskünstler und Netz-Nutzer

George Orwell war gleich mehrfach gebrannt – als Ex-Kommunist, früherer britischer Kolonialbeamter sowie armer Journalist und Schriftsteller – als er 1948 seinen Weltroman „1984“ schrieb. Darin beschreibt er, wie totalitäre Herrscher mittels Gehirnwäsche und „Neusprech“ die Beherrschten zu willenlosen Werkzeugen machen. Als abschreckende Vorbilder dienten ihm sowohl die Propaganda-Apparate der Nazis wie der Stalinisten: Das „Wahrheitsministerium“ definiert Begriffe neu und um und gibt sie als Losungen aus, denen die Menschen blind folgen.

 

Heute bedient sich die Werbung dieser Methode: „Raider heißt jetzt Twix heißt jetzt wieder (manchmal) Raider.“ Aber auch die Politik nutzt gerne die Mittel des Neu-Linguistischen Programmierens. So wurden in den 1970er Jahren aus Atomreaktoren Kernkraftwerke, weil das kerniger und harmloser klang und nicht mehr an die verwandten Atombomben erinnerte. Atommülldeponien und -anlagen wurden von den Betreibern euphemistisch „Entsorgungspark“ genannt, bis nach trotzdem heftigen Protesten von Atomkraftgegnern die fast fertig gebaute atomare Wiederaufbereitungsanlage in Kalkar tatsächlich zum Vergnügungspark wurde.

 

Ein Großmeister politischer Sprachverdrehung war der verstorbene Kanzler Helmut Kohl. Die bis heute erhobene Ergänzungsabgabe auf die Einkommenssteuer zur Finanzierung der zunächst von ihm verleugneten hohen Kosten der Einheit taufte er „Solidaritätsabgabe“ – wer kann schon dagegen sein? Weshalb sich bis heute bei Steuerzahlern im Westen der Irrglaube hält, nur sie würden den Soli entrichten, obwohl die Zusatzsteuer selbstverständlich auch in den „neuen“ Ländern erhoben wird und wie alle Steuern nicht speziell dem „Aufbau Ost“ und der Schaffung „blühender Landschaften“ im Osten – noch solche verkohlenden Wortprägungen – dient, sondern der allgemeinen Staatsfinanzierung. Nachfolger Schröder hatte nicht so gute PR-Leute. Hätten sie die zusammengelegte Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht technokratisch Hartz IV, sondern schon damals z. B. solidarisches Grundeinkommen genannt, wäre der Widerstand vermutlich weit geringer ausgefallen. Wenn nicht ausgeblieben.

 

Kohls Epigonin Merkel steht ihrem großen Vorbild dagegen kaum nach. Nicht nur, dass sie häufig politische Spitzkehren vollzog – erst Verlängerung der Reaktorlaufzeiten/dann über Nacht kompletter Atomausstieg inklusive „Energiewende“; gegen Finanzhilfen für Pleite-Banken und EU-Krisenstaaten/dann deren Vorreiterin; Verteidigung/Abschaffung der Wehrpflicht. Sie erfand auch die „marktkonforme Demokratie“ als Ersatzbegriff für die weithin verhasste neoliberale Lehre, der sie bis zu ihrer nur knappen Kanzlerinnen-Werdung 2005 selbst anhing. Vor allem aber prägte sie in verheerender Weise die demokratiefeindliche Behauptung einer „alternativlosen Politik“, nämlich ihrer. Dabei lebt Politik vom Ringen und Machtkampf um alternative Ziele und Wege dorthin.

 

Noch verheerender ist, dass ihr heute auch Leute nachplappern, die lange zu ihren Kritikern und Gegnern zählten. Alle nennen die Migranten, die durch ihre einsame Entscheidung seit Herbst 2015 in großer Zahl ins Land kamen, unterschiedslos „Flüchtlinge“, obwohl strenger genommen nur ein Teil von ihnen das wirklich ist. Und selbst Linke und Grüne kleben an ihrer Leimrute der „Willkommenspolitik“ und „-kultur“, obwohl der Begriff ursprünglich von der Gegenseite stammt, nämlich den Arbeitgebern, die wiederum in Wahrheit die Arbeit der Beschäftigten „nehmen“. Denn die haben früh erkannt, dass da neue Billigstarbeitskräfte kamen und kommen, die sie noch günstiger ausbeuten können angesichts des „Arbeitskräftemangels“ und des „demografischen Knicks“. Nur die Kosten und Mühen der Integration der Millionen Einwanderer sollen Bitteschön andere tragen, nämlich hilfsbereite Bürger.

 

Es lohnt sich halt immer, hinter solch noch so unschuldig wirkende Wortschöpfungen zu schauen, um zu erkennen, welche Interessen dahinter stecken. So wurde die nicht nur begrifflich verpönte „Homo-Ehe“ von ihren Verfechtern im vergangenen Jahr flugs in „Ehe für alle“ umgeschminkt, obwohl längst nicht alle heiraten wollen, weder Hetero- noch Homosexuelle. Und obwohl die Ehe nach dem Willen der Gleichen, die ihre Öffnung für Schwule und Lesben durchgesetzt haben, für andere versperrt bleibt. Für Minderjährige z. B. („Kinderehe“), obwohl sie früher jungen Frauen über 16 erlaubt war. Oder für Geschwister und andere Verwandte („Blutschande“).

 

In einer Demokratie kann man so ziemlich für und gegen alles sein. Man sollte es nur ehrlich beim richtigen Namen nennen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2018.

Ludwig Greven
Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor.
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