Migration – Integration, eine neue alte Aufgabe

Rede von Prof. Dr. Markus Hilgert auf der Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration am 29.05.2018

4. Zuwanderung und Fremdenfeindlichkeit vor 4.000 Jahren
Was hat alles das mit kultureller Integration zu tun? Hammurapi von Babylon, der bis heute als einer der bedeutendsten Herrscher des Alten Orients gilt, war ein Herrscher mit Migrationshintergrund. Seine familiären Wurzeln ebenso wie vermutlich bestimmte Bereiche seiner Sozialisierung lagen außerhalb der südmesopotamischen Mehrheitsgesellschaft. Denn Hammurapi entstammte einer Bevölkerungsgruppe, die als Minderheit seit mehreren Generationen in Koexistenz mit dieser sesshaften Mehrheitsgesellschaft lebte. Diese Bevölkerungsgruppe bestand ursprünglich aus Kleinviehnomaden, die in Stämmen organisiert waren. Seit der Mitte des dritten Jahrtausends v. Chr. drangen diese Stämme vermehrt aus der syrischen Wüstensteppe in das wohlhabende mesopotamische Kernland vor, meist auf der Suche nach Weideland und Wasser.

 

Von der Mehrheitsgesellschaft schon früh mit der abwertenden Sammelbezeichnung ‚Amurriter‘ belegt, waren diese Menschen, die eine eigene Sprache, eigene Erzählungen sowie eigene kulturelle Formen mitbrachten, noch am Beginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. in Mesopotamien durchaus keine willkommenen Gäste. Die dezidiert fremdenfeindliche Rhetorik, die von den Eliten der Aufnahmegesellschaft gegen die Amurriter eingesetzt wurde, war gekennzeichnet von fehlender begrifflicher und kategorialer Differenzierung sowie von abwertender Stereotypisierung. Sie gipfelt in folgender Beschreibung mit stark rassistischem Unterton, die einer mythologischen Komposition in sumerischer Sprache aus dem frühen zweiten Jahrtausend v. Chr. entstammt:

 

„Nimm Dich in Acht, ihre Hände sind zerstörend, (ihr) Aussehen das von Affen. Sie essen (Dinge), die von Gott Nanna tabuisiert sind, sie haben keine Ehrfurcht. … Ein Abscheu der Tempel der Götter sind sie. Ihr Verstand ist verwirrt … Es sind Leute, die Ledersäcke (anstelle von Kleidern) tragen … in Zelten leben sie … Die noch nie Gebete gesprochen haben, in der Hochsteppe wohnend, die die Orte der Götter nicht kennen. Sie sind Leute, die Trüffeln an den Hügeln gegraben haben und nicht wissen, das Knie zu beugen. Ungekochtes Fleisch essen sie. Die Zeit ihres Lebens kein Haus haben (und), wenn sie gestorben sind, zu keinem Bestattungsplatz gebracht werden …“ (Klein 1997 Zeilen 127–138; dazu Streck 2000, 73–75).

Die stereotype, nahezu durchweg negative Darstellung der Amurriter in sumerischen Texten des frühen zweiten Jahrtausends v. Chr. geht offenbar auf eine noch ältere Tradition zurück, die sich erstmals in Keilschrifttexten des ausgehenden dritten Jahrtausends v. Chr. niederschlägt. In einer Inschrift des vierten Herrschers der Dritten Dynastie von Ur (2112–2004 v. Chr.), Šu-Suen, lesen wir:

„… Amurriter, Leute, die zerstören, mit dem Instinkt eines Hundes, Wölfen gleich …“ (RIME 3/2, 299, 25–27).

 

Šu-Suen fühlte sich offenbar massiv von den Amurritern bedroht, denn sowohl sein viertes als auch sein fünftes Regierungsjahr sind nach dem Bau bzw. Ausbau einer Verteidigungsanlage, der „Amurriter-Mauer“ (sumerisch: bad martu), benannt, die als Bollwerk gegen die zunehmend nach Mesopotamien einwandernden Kleinviehnomaden dienen sollte.
Damit zeichnen sich die Leitmotive des ‚Amurriter-Diskurses‘ in Keilschrifttexten des späten dritten und frühen zweiten Jahrtausends v. Chr. klar ab:

  1. Bedrohung und Konfrontation;
  2. gänzlich andersartige Lebensformen;
  3. Ignoranz gegenüber den kultur- und identitätsstiftenden sozialen Praktiken der Mehrheitsgesellschaft;
  4. äußere Erscheinung sowie bestimmte Denk- und Verhaltensmuster.

 

Trotz dieser hartnäckigen Vorurteile auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft gelang es Hammurapi, der bezeichnenderweise keinen babylonischen, sondern einen amurritischen Namen trug, einen ausgedehnten, vergleichsweise stabilen Herrschaftsbereich sowie die machtpolitische Grundlage für die Herrscher der „Ersten Dynastie von Babylon“ zu schaffen. Dass er als Angehöriger einer nach wie vor geschmähten und diskriminierten Minderheit politisch so erfolgreich war und sich zumindest äußerlich perfekt in die herrschaftsideologischen und theologischen Traditionen der Mehrheitsgesellschaft einzufügen scheint, ist wohl nicht zuletzt seinem geradezu virtuosen Umgang mit verschiedenen kulturellen Formen dieser Mehrheitsgesellschaft geschuldet. Ebenso wenig wie Hammurapi selbst waren diese kulturellen Formen ‚typisch babylonisch‘. Vielmehr wurden sie aus ganz unterschiedlichen Komplexen sozial-kultureller Praxis isoliert und in einer Re-Interpretation und Re-Kontextualisierung zu etwas Neuem amalgamiert – ein Paradebeispiel transkultureller Grenzüberschreitung und transkultureller Aushandlung.

 

Damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, werden am historischen Fallbeispiel des Hammurapi von Babylon die vier Aspekte kultureller Integration sichtbar, die ich eingangs als Thesen formuliert hatte:

 

  1. Kulturelle Integration ist ein Generationenprojekt: sie bedarf der Geduld, der Ausdauer und bedingungsloser Zuversicht.
  2. Innerhalb einer Gesellschaft verlaufen kulturelle Integrationsprozesse mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten: Rückschläge auf einzelnen Etappen des Weges bedeuten nicht zwangsläufig, dass das Ziel nicht erreicht werden kann.
  3. Kulturelle Integration entsteht aus einem ergebnisoffenen Wettbewerb der Narrative und kulturellen Formen: Seinen Teilnehmern verlangt dieser Wettstreit gleichberechtigter kultureller Ausdrucksformen den Mut zur Begegnung, die Geschicklichkeit der Aushandlung und das Vertrauen in die eigene kulturelle Identität ab.
  4. Bedeutende kulturelle Leistungen einer Gesellschaft sind in der Regel das Ergebnis transkulturellen Austauschs: Als kreativer ‚Remix‘ verschiedener, bereits bestehender kultureller Formen sind sie immer ein Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts.
Markus Hilgert
Markus Hilgert ist Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder.
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