3. Station: anonym. Es vergingen viele Jahren seit der Abreise und Suche nach einer sicheren Heimat. Als ich ihre Nähe spürte, entfernte sie sich wieder. Ich kann meine Hautfarbe nicht ändern, um weiß wie sie zu sein, sie wollen ihre Farbe nicht ändern, um wie ich zu sein. Mein Akzent besiegte mich immer, trotz meiner Sprachfertigkeit. Dunkle lebendige Gesichter verfolgten mich sowie der Geruch von Straßen und alten Häusern in der Erinnerung – die Nostalgie, die mich trotz meiner Fluchtversuche immer belastete.
4. Station: Ein irakischer Freund konfrontiert mich mit der Aussage: „Meine Heimat sind meine Erinnerungen, die ich überall hin mitnehme“. Vielleicht hat er Recht. Ich begann gerade, hier neue Erinnerungen an diese weißgetünchten Straßen zu schaffen. Ich habe gerade verstanden, was die harten Gesichter andeuten. Die Gleichung begann zu balancieren. Wenn ich mich in Zahlen umwandeln könnte, würde die Teilung fair sein, die gleiche Zeit, die ich hier verbrachte, entspricht ungefähr meinem Leben dort. Die Jahre vergingen und ich versuchte meine Erinnerungen an dort zu töten. Sie kamen aber immer wieder hoch, erschienen unauslöschlich. Ich versuchte die Sprache, den Humor und die Lieder auszutauschen. Es wurden Jahre des Kampfes, um feststellen zu müssen, dass der Verrat an den Erinnerungen nicht gelang. Es war ein Trugschluss zu glauben, dass dieser Verrat der erste Stein für das Traumhaus Heimat sein könnte.
5. Station: auf einer Berliner Straße, die ich liebte und in der ich immer nach Ähnlichkeiten aus meinen Erinnerungen suchte. Drei Männer sprachen mich mit einem lokalen Akzent an, den ich nicht beherrschte. Ich lächelte, als ihre Augen auf mich stießen, trotz meines Gefühls der Gefahr. Meine Hautfarbe verriet ihnen vermeintlich etwas über mich. Plötzlich musste ich einen starken körperlichen Schmerz bekämpfen – sowie später eine tiefe Wunde in meinem Herzen. Ich begegnete meinem Fremdsein in ihren Augen. Es stand vor mir als eine neue harte Herausforderung für meinen Traum.
6. Station: Ich wollte wieder in die Stadt zurückkehren, in der meine Mutter lebt. Die Stadt mit dem Atem von Millionen Menschen, die mit den Gerüchen von Mauern und Gefängnissen verbunden ist. Zurück zu diesem zufällig gezeichneten Gemälde, das in einem regelrechten Chaos existiert, in dem eine unsichtbare Seele sitzt. Ich würde in den geografischen Ur-Ort zurückkehren, den die Welt mir zuwarf. Aber heute bin ich nicht mehr diejenige, die vor Jahren hier war. Genau wie der Ort nicht mehr derjenige ist, der er einmal für mich war. Er ist nicht mehr so schön und edel wie in meiner Erinnerung. Meine Heimat verschwand zwischen einem unvollständigen Traum und einer nicht mehr vorhandenen Umarmung.
Vorletzte Station: Es blieb der Raum dazwischen. Ich konnte nicht zu meinem alten Ort zurückkehren und es schien mir unmöglich, zu einer ausgewählten Heimat einfach dazuzugehören. Es war unvermeidlich zuzugeben. Es blieb mir von „dort“: das Lachen meines abwesenden Vaters, das mich in meinen Träumen ab und zu besuchte; die Umarmung meiner Mutter, die von Tag zu Tag einen größeren Abstand bekam; die Gerüche der alten Straßen, die nicht mehr existierten. Und eine Reihe von Abwesenheiten zwischen „dort“ und „hier“: das verfälschte Gefühl der Zufriedenheit, das sich einstellte, wenn ich zum „Hier“ zurückkehrte; das Lächeln von Nachbarn, das auch im Winter warm aussah; einige Straßen, die mich nach Jahren kannten; die akzentlose Sprache meiner Tochter; ihr Lächeln, das meine Einsamkeit begleitete; meine ständige Angst, dass sie mich eines Tages mit der Frage konfrontieren könnte: „Mama, was bedeutet Heimat?“
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2018.