Marwa Abidou - 6. September 2018 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Migrantentagebuch, erster Eintrag: Heimat


Was ist Heimat?

„Was bedeutet Heimat?“ Diese Frage schien mir immer sehr verdächtig. Wenn ich zurückblicke, erinnere ich mich an meine geduldigen Versuche, eine Antwort dafür zu finden. Nur für den Augenblick schien mir die Antwort vernünftig zu sein. Zu schnell erhält sie neue Fragezeichen, die sich ihren Vorgängern anschließen.

 

Als ich noch ein Kind war, war die Umarmung meiner Mutter das größte und einzige Zuhause, aber leider war es nicht immer verfügbar. Als ich älter wurde, war die Stimme meines Vaters und sein Lachen mein Zuhause. Diese füllten unser kleines Haus immer mit Freude und Frieden. Leider entriss der Tod ihn mir plötzlich. Mit dem Erreichen des Jugendalters wurde auch meine Suche nach einer Heimat größer. Ich fand sie, in den Momenten, in denen ich spürte, dass meine Freunde mich, so wie ich bin, akzeptierten. Die Begleitung meiner Freunde blieb nicht lang. Das Leben verstreute uns. Ich entwickelte mich weiter sowie auch die Frage – und meine Entschlossenheit verstärkte sich, eine Antwort zu bekommen. Die Heimat war nicht mehr in meinem Leben anwesend. Eines Tages beschloss ich, alles zu überdenken, was ich zufällig von meiner Familie erbte: meinen Namen; die Namen meiner Vorfahren, die ich nicht kenne; meine Religion, die mein Herz immer schmerzte; meine Heimat, die sich auf ein Land zu reduzieren schien.

 

Mein Überdenken führte dazu, dass ich alles infrage stellen musste. Alles erschien mir sehr verengt, zu verengt. Ich musste raus – entschied mich zu gehen. Ich stand lange vor der Weltkarte aus künstlich hergestellten Grenzen und versuchte einen Rahmen für meine Heimat zu finden. Ich wollte eine Heimat, die meine Fragen und meine Verwirrung akzeptieren kann. Eine Heimat, in der ich nicht gezwungen bin, zwischen meinem Leben und seinem Leben zu verhandeln. Ich träumte von einer anwesenden Heimat, in der ich leben kann, die ich nicht wegen ihrer Abwesenheit für den Rest meines Lebens suchen muss. Ich wählte einen Ort auf der Karte, der Freiheit und Akzeptanz versprach. Ich trug einige meiner Sorgen in meinem Koffer, meine Träume in meinem Herzen, und buchte ein One-Way-Flugticket.

 

Ich werde dieses Gefühl niemals vergessen, das mich ergriffen hat, als ich meine verlassene Heimat vom Fenster des Flugzeugs erblickte. Das Bild entfernte sich allmählich und wurde zu einem Punkt auf der großen Fläche der Erde. Irgendwann konnte ich ihn nicht mehr sehen, aber mein Herz tat es. Ich fühlte einen Schmerz, der das Herz in Abschiedsmomenten ergreift, der für Tage oder sogar Jahre bleiben kann und sich manchmal von selbst erneuert. Ich wollte diesem Schmerz nicht nachgeben, sondern ihn in die Hoffnung verwandeln, eine neue Heimat ohne Schmerz zu finden.

 

1. Station: Frankfurter Flughafen mit seinen riesigen dominanten Gebäuden. Eine kalte Stadt, schweigende Gesichter, die nichts andeuten, geschlossene Gefühle, Laute von unbekannter Sprache. Ich musste aus Zeichensprache und einigen englischen Wörtern verstehen, dass ich inspiziert werden sollte. Ich war nicht allein, es gab einige Passagiere mit brauner Haut, die wie ich unter Beobachtung waren. Es gab kein Entkommen. Ich musste meinen Körper und mein Gepäck durchsuchen lassen, damit ich ihre Heimat betreten durfte.

 

Nun war ich hier, ein paar Schritte noch zu meinem Traum von Heimat in einem freien und straff organisierten Land. Es sah für mich wie ein Gemälde aus, das mit präzisen technischen Standards gemalt wurde. Nur konnte ich keine Seele erkennen. Meine innere Stimme warf mir vor: „Das Hier und das Dort zu vergleichen, ist nicht nötig … du musst die Last der Vergangenheit loswerden, um neu anfangen zu können. Du musst ihre Sprache gut lernen, um ihnen zu beweisen, dass du das Leben unter ihnen verdienst!“

 

2. Station: ein sehr kleines Zimmer in einer sehr großen Stadt, die weder Erinnerungen, noch bekannte Gerüche trägt – leer wie mein Herz. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich morgens mein Fenster öffnete und meine Nachbarin nackt im Garten liegen sah. Ich sah sie erstaunt an und konnte noch nicht begreifen, dass das Realität sein konnte. Ihre Stimme brach meine Überraschung: „Die Sonne scheint hier selten, ich versuche seit mehr als 40 Jahren deine Hautfarbe zu bekommen. Wahrscheinlich kennst du ihren Wert gar nicht, weil du sie von Natur aus hast.“ Ich lächelte schüchtern und wiederholte mir ihre Worte in meinem Kopf: „Meine Hautfarbe ist ein Geschenk meiner Heimat, ich trage es bei mir und kann und will es nicht aufgeben, selbst wenn ich könnte, es war immer da!“ Leider, merkte ich später, konnte es gefährlich sein.

3. Station: anonym. Es vergingen viele Jahren seit der Abreise und Suche nach einer sicheren Heimat. Als ich ihre Nähe spürte, entfernte sie sich wieder. Ich kann meine Hautfarbe nicht ändern, um weiß wie sie zu sein, sie wollen ihre Farbe nicht ändern, um wie ich zu sein. Mein Akzent besiegte mich immer, trotz meiner Sprachfertigkeit. Dunkle lebendige Gesichter verfolgten mich sowie der Geruch von Straßen und alten Häusern in der Erinnerung – die Nostalgie, die mich trotz meiner Fluchtversuche immer belastete.

 

4. Station: Ein irakischer Freund konfrontiert mich mit der Aussage: „Meine Heimat sind meine Erinnerungen, die ich überall hin mitnehme“. Vielleicht hat er Recht. Ich begann gerade, hier neue Erinnerungen an diese weißgetünchten Straßen zu schaffen. Ich habe gerade verstanden, was die harten Gesichter andeuten. Die Gleichung begann zu balancieren. Wenn ich mich in Zahlen umwandeln könnte, würde die Teilung fair sein, die gleiche Zeit, die ich hier verbrachte, entspricht ungefähr meinem Leben dort. Die Jahre vergingen und ich versuchte meine Erinnerungen an dort zu töten. Sie kamen aber immer wieder hoch, erschienen unauslöschlich. Ich versuchte die Sprache, den Humor und die Lieder auszutauschen. Es wurden Jahre des Kampfes, um feststellen zu müssen, dass der Verrat an den Erinnerungen nicht gelang. Es war ein Trugschluss zu glauben, dass dieser Verrat der erste Stein für das Traumhaus Heimat sein könnte.

 

5. Station: auf einer Berliner Straße, die ich liebte und in der ich immer nach Ähnlichkeiten aus meinen Erinnerungen suchte. Drei Männer sprachen mich mit einem lokalen Akzent an, den ich nicht beherrschte. Ich lächelte, als ihre Augen auf mich stießen, trotz meines Gefühls der Gefahr. Meine Hautfarbe verriet ihnen vermeintlich etwas über mich. Plötzlich musste ich einen starken körperlichen Schmerz bekämpfen – sowie später eine tiefe Wunde in meinem Herzen. Ich begegnete meinem Fremdsein in ihren Augen. Es stand vor mir als eine neue harte Herausforderung für meinen Traum.

 

6. Station: Ich wollte wieder in die Stadt zurückkehren, in der meine Mutter lebt. Die Stadt mit dem Atem von Millionen Menschen, die mit den Gerüchen von Mauern und Gefängnissen verbunden ist. Zurück zu diesem zufällig gezeichneten Gemälde, das in einem regelrechten Chaos existiert, in dem eine unsichtbare Seele sitzt. Ich würde in den geografischen Ur-Ort zurückkehren, den die Welt mir zuwarf. Aber heute bin ich nicht mehr diejenige, die vor Jahren hier war. Genau wie der Ort nicht mehr derjenige ist, der er einmal für mich war. Er ist nicht mehr so schön und edel wie in meiner Erinnerung. Meine Heimat verschwand zwischen einem unvollständigen Traum und einer nicht mehr vorhandenen Umarmung.

 

Vorletzte Station: Es blieb der Raum dazwischen. Ich konnte nicht zu meinem alten Ort zurückkehren und es schien mir unmöglich, zu einer ausgewählten Heimat einfach dazuzugehören. Es war unvermeidlich zuzugeben. Es blieb mir von „dort“: das Lachen meines abwesenden Vaters, das mich in meinen Träumen ab und zu besuchte; die Umarmung meiner Mutter, die von Tag zu Tag einen größeren Abstand bekam; die Gerüche der alten Straßen, die nicht mehr existierten. Und eine Reihe von Abwesenheiten zwischen „dort“ und „hier“: das verfälschte Gefühl der Zufriedenheit, das sich einstellte, wenn ich zum „Hier“ zurückkehrte; das Lächeln von Nachbarn, das auch im Winter warm aussah; einige Straßen, die mich nach Jahren kannten; die akzentlose Sprache meiner Tochter; ihr Lächeln, das meine Einsamkeit begleitete; meine ständige Angst, dass sie mich eines Tages mit der Frage konfrontieren könnte: „Mama, was bedeutet Heimat?“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2018.


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