111 Kilometer Aktenbestände, 2 Millionen Fotos, 23.000 Tondokumente

Die Überführung der Stasi-Unterlagen ins Bundesarchiv

Zimmermann: Ich würde diese „Überführung“ ganz gern als Chance sehen, um noch mal einen deutlichen Schritt weiterzugehen als bisher. So gut wir uns bei dem Stasi-Unterlagen-Gesetz mit den Akten beschäftigt haben, so schlecht haben wir das Erinnern an die DDR organisiert. Das ist kein Ruhmesblatt. Ich finde es schon erstaunlich, dass wir kein öffentliches DDR-Museum haben. Wir haben zwar im Deutschen Historischen Museum oder im Haus der Geschichte in Bonn Abteilungen, die sich auch mit der DDR beschäftigen. Aber die Frage, wie wir erinnern, ist hauptsächlich privatisiert worden. Denken sie an das private DDR Museum oder das ebenfalls private Museum am Checkpoint Charlie. Wir haben auch erstaunlich wenig authentische Orte – wenn man sich vorstellt, dass da immerhin mal eine Mauer quer durch Deutschland gelaufen ist, eine Mauer Berlin teilte. Heute kann man sehen, wie wenig davon erhalten wurde. Einer der größten noch authentischen Bereiche ist die ehemalige Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße. Sie müsste einer der zentralen Orte werden, an denen wir uns auch museal mit DDR-Geschichte und damit verbundener deutsch-deutscher Geschichte auseinandersetzen.
Dort besteht ein unglaublicher Vorteil gegenüber einer klassischen Museumsstruktur. Wenn ich in ein Gebäude hereingehe und die spießigen Wohn- und Arbeitsräume des ehemaligen Ministers für Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke, sehen kann, ist das was anderes, als wenn ich sie auf einem Bild sehe oder einen Text darüber lese. Um die DDR für Menschen verstehbar zu machen, die dort nicht gelebt haben, so wie ich, aber auch für meine Kinder und Kindeskinder, wird man eine andere Möglichkeit entwickeln und noch weitergehen müssen, als man bisher gegangen ist.
Hollmann: Das Stasi-System muss im Kontext verstehbar gemacht werden. Das heißt nicht nur im Kontext von Information, sondern auch im Kontext des Ortes. Die zentralen Orte, an denen wir aus Erinnerung auch Kultur machen wollen, braucht es schon. Ich finde es fatal, dass in den letzten Jahren der Begriff der Erinnerungskultur so weitgehend auf das Themenfeld des Holocausts beschränkt wurde. Es ist richtig, dass wir es in Deutschland – mit erheblicher Nachhilfe aus dem Ausland – zu einem integralen Teil unserer Kultur gemacht haben, uns auch der schlimmen Seiten der deutschen Geschichte zu erinnern und zu versuchen, diese nicht auf die Glanzseiten beschränkte Erinnerung für die demokratische Weiterentwicklung unseres Landes fruchtbar zu machen. Diese Form der Erinnerungskultur muss auf das Thema DDR und SED-Diktatur ausgeweitet werden. Es reicht nicht aus, in der Schule zu lernen, dass es in der DDR ein diktatorisches System gab, man muss dieses Wissen auch vor Ort erfahrbar und damit kulturell fruchtbar machen.
Jahn: Das Stasi-Unterlagen-Archiv bleibt am historischen Ort in Berlin-Lichtenberg und dann auch an historischen Orten in den Ländern präsent. Es ist der klare Auftrag des Deutschen Bundestages, mit der Transformation auch den Ort der ehemaligen Stasi-Zentrale zu nutzen. Zusätzlich sollen weitere Bestände des Bundesarchivs zur DDR dorthin kommen, um dort in einem Archivzentrum, in dem auch Digitalisierung und Bestandserhaltung großgeschrieben werden, dafür Sorge zu tragen, dass hier der Austausch stattfinden kann, eingebettet an diesem historischen Ort, der sowohl Diktatur- als auch Demokratiegeschichte darstellt. Wir freuen uns auch, dass das Land Berlin kürzlich beschlossen hat, das Gelände als Campus für Demokratie weiterzuentwickeln.
Hollmann: Aber dieser Campus – wer auch immer sich darauf ansiedelt – ist nicht dazu da, um ex cathedra dogmatisch zu erklären: So war das in der DDR. Dieser Ort muss vielmehr eine Einladung sein an jeden, der sich mit dem Thema DDR und Stasi auseinandersetzen will, mit den Räumlichkeiten, mit dem lesbar und intellektuell Erfahrbaren. Man soll sich an diesem Ort selbst ein Bild machen können – nur so kommt das Vetorecht der Quellen zur Geltung.
Zimmermann: So ein Ort muss dann natürlich auch eine Bedeutung in der Kulturpolitik haben, die dieser Einladung entspricht. Wir geben eine ganze Menge Geld für Orte aus, zu denen wir einladen. Ob wir Schlösser wiederaufbauen oder ganz neue Museen für zeitgenössische Kunst bauen – das kostet viel Geld. Ob überall in der Bundespolitik schon bewusst ist, dass die Gestaltung dieses Ortes zusätzlich kosten wird, und ob überall der Wille vorhanden ist, dies in den nächsten fünf bis acht Jahren auch zu schaffen – da habe ich Zweifel.
Hollmann: Im Moment stehen wir vor der aus meiner Sicht günstigen Situation, dass der Bund, und zwar durch Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien als auch ganz offensichtlich durch den Bundestag, erklärt hat, man werde diese Überführung der Stasi-Unterlagen unter das Dach des Bundesarchivs nicht dazu nutzen, irgendwelche Effizienzrenditen einzufahren und Geld einzusparen. Wir haben die Zusage, dass die Haushalte von Bundesarchiv und BStU zunächst vollständig addiert werden und dass es zusätzliche Mittel für dringend notwendige Investitionen geben wird.
Zimmermann: Und die reichen?
Hollmann: Es werden keine Zahlen genannt, sondern es wurde gesagt, man werde die notwendigen Mittel, z. B. für die baulichen Maßnahmen und die digitale Infrastruktur, zur Verfügung stellen. Daran werden wir natürlich, wenn nötig, immer wieder erinnern.

 

Roland Jahn, so oder so werden Sie der BStU-Chef sein, der aktiv das Ende seiner Behörde in der bekannten Form betrieb. Was muss passieren, dass man in 20 Jahren sagt: „War gut, dass er das gemacht hat“?
Jahn: Es geht darum, diese Trophäe der Revolution weiter hochzuhalten. Aber wenn wir die Rolle von Archiven als Stützpfeiler der Demokratie sehen, geht es auch darum, dass die Stasi-Unterlagen Teil des nationalen Gedächtnisses sind. Wir können dadurch deutlich machen, dass wir deutsche Einheit leben, dass wir diesen Teil deutsch-deutscher Geschichte in den nächsten Generationen als einen eigenen Teil deutscher Geschichte annehmen, auch wenn jemand z. B. in Saarbrücken geboren ist. Für mich ist wichtig, dass wir jetzt die Zukunft der Akten sichern. Gleichzeitig hat der Deutsche Bundestag klargemacht, dass Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen nicht einfach abgeschafft wird, sondern der Beauftragte für die Akten zu einem Beauftragten für die Menschen weiterentwickelt werden soll: zu einem Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur. So- lange die Opfer leben, ist es wichtig, dass jemand für sie da ist. Eine – wie jetzt bereits – direkt vom Parlament gewählte Institution, damit die Opfer, solange sie leben, nicht auf der Strecke bleiben.
Hollmann: Wir werden uns darum bemühen, durch gute Arbeit dafür zu sorgen, dass man in 20 Jahren sagt: „Herr Jahn hatte recht“.

 

Herr Zimmermann, von Ihnen ging die Initiative für dieses Gespräch aus, nehmen Sie positive Aspekte daraus mit?
Zimmermann: Hier bemühen sich Menschen sehr intensiv, das Erinnern über ein Archiv in die Zukunft zu tragen, das finde ich mutig und gut. Besonders das, was Herr Jahn gemacht hat, finde ich couragiert. Er wird seinem Auftrag gerecht, einen Weg zu finden, wie man nachhaltig mit Erinnerungskultur umgeht. Es ist dann jetzt auch die Aufgabe von Herrn Hollmann, sicherzustellen, dass die Bestände nachhaltig erhalten bleiben. Das wird auch noch eine Menge politischer Forderungen bedeuten, weil es nur funktionieren kann, wenn noch einmal kräftig in den Erhalt investiert wird, damit man auch in hundert Jahren noch auf die Archivalien zugreifen kann. Und ich habe das positive Gefühl, dass man gemeinsam versuchen will, etwas zu tun, was der besonderen Bedeutung des authentischen Ortes „Normannenstraße“ gerecht wird. Es ist wichtig, zu erkennen, dass wir dort – ein bisschen ab vom Zentrum Berlins – einen ganz besonderen Ort haben, der sich für die künftigen Generationen als wichtiger Erinnerungsort erweisen wird.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.

Roland Jahn, Michael Hollmann, Olaf Zimmermann und Hans Jessen
Roland Jahn ist Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BstU). Michael Hollmann ist Präsident des Deutschen Bundesarchivs. Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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