111 Kilometer Aktenbestände, 2 Millionen Fotos, 23.000 Tondokumente

Die Überführung der Stasi-Unterlagen ins Bundesarchiv

In anderthalb Jahren, im Sommer 2021, wird die Stasi-Unterlagen-Behörde ins Bundesarchiv überführt. Das beschloss der Deutsche Bundestag im September letzten Jahres. Grundlage dafür ist ein Konzept, das der Präsident des Bundesarchivs, Michael Hollmann, und Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU), Roland Jahn, zusammen entwickelt haben. Gemeinsam mit Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, und Hans Jessen, freier Redakteur von Politik & Kultur, sprechen sie über die geplanten Änderungen und die notwendigen Weichenstellungen.

 

Hans Jessen: Herr Hollmann, was da auf Sie zukommt, ist materiell gewaltig: 111 Kilometer Aktenbestände, fast 2 Millionen Fotos, knapp 3.000 Filme, 23.000 Tondokumente kommen neu in Ihre Zuständigkeit. Die Vorstellung, dass Lastwagenkolonnen alles nach Koblenz karren, ist aber falsch. Wie haben wir uns die Übernahme real vorzustellen?
Michael Hollmann: Zunächst bleiben die Stasi-Unterlagen genau da, wo sie jetzt sind. Die Vorstellung, jetzt kommen alle Stasi-Akten ins Bundesarchiv und damit nach Koblenz, war schon vor 30 Jahren nicht richtig. Seit Jahrzehnten arbeitet das Bundesarchiv an mehreren Dienstorten; seit fast 60 Jahren gibt es die Abteilung Militärarchiv in Freiburg, und seit der Wiedervereinigung gibt es hier in Berlin gleich mehrere Dienststellen. Wir begreifen das Bundesarchiv schon seit Langem nicht mehr als ein Haus an einem Ort, sondern als ein nationales Zentralarchiv, das sich an mehreren Orten der Nutzung öffnet: Die Überlieferungen der Reichsbehörden aus der Zeit bis 1945 befinden sich ebenso in Berlin wie die Überlieferungen der DDR-Behörden, der SED und der Massenorganisationen der DDR. Die Überlieferungen der Bundesregierung und der Bundesbehörden seit 1949 werden in Koblenz und Bayreuth verwahrt, und alle militärischen Unterlagen verwaltet die Abteilung Militärarchiv in Freiburg.
Mit der Übernahme der Stasi-Unterlagen kommen zwölf weitere Archivstandorte hinzu, die mittelfristig auf fünf Standorte – einer je östliches Bundesland – zusammengeführt werden sollen. Dort hoffen wir dann vor allem, zunächst vernünftige Magazine bauen zu können, denn die Unterbringung der Stasi-Unterlagen ist an den meisten Standorten aktuell leider defizitär.

 

Herr Jahn, Menschen, die lange Jahre Ihre Bundesgenossen bei der Aufarbeitung des Stasi-Unterdrückungssystems waren, werfen Ihnen jetzt vor, mit der Abschaffung der eigenständigen Behörde einem historischen Schlussstrich zuzustimmen. Das heißt, diesen Teil der DDR-Geschichte sozusagen hinter Archivmauern zu begraben.
Roland Jahn: Ich nehme solche Meinungen durchaus ernst. Der Zugang zu den Stasi-Akten ist ein Symbol der friedlichen Revolution. Genau deshalb sind wir diesen Weg gegangen. Wir haben ein Konzept vorgelegt, das der Deutsche Bundestag bestätigt hat. Es ermöglicht eine dauerhafte Nutzung aller Stasi-Akten in ihrer Gesamtheit. Wir wollen, dass die Stasi-Unterlagen auch institutionell Teil des Gedächtnisses der Nation werden. Das Stasi-Unterlagen-Archiv hat als Hinterlassenschaft der Geheimpolizei einer Diktatur eine besondere Bedeutung. Gleichzeitig soll sich der Horizont erweitern: Die DDR war keine Stasi-Diktatur, sondern eine SED-Diktatur. Das spiegelt sich nicht allein in den Unterlagen der Staatssicherheit wider, sondern zusätzlich in vielen, vielen anderen Beständen des Bundesarchivs. Den Blick zu weiten auf das gesamte System, das soll in Zukunft noch besser gelingen, durch eine einfachere Gesamtbetrachtung, auch der Dokumente.

 

Unter denen, die skeptisch verhalten bis offen Ihrem Konzept widersprechen, sind viele, die an genau den Orten arbeiten, wo die Unterlagen gerade aufbewahrt werden. Warum ist dort die Skepsis so ausgeprägt?
Jahn: Die Sorge ist, dass hier ein Symbol geschliffen wird. Uns geht es aber genau darum, das Symbol hochzuhalten. Wir wollen die Voraussetzungen schaffen, dass die Akten, Fotos, Ton- und Filmdokumente auch in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten zur Verfügung stehen. Wer das Konzept durchliest, kann erkennen, wie wichtig uns die öffentliche Kommunikation des Stasi-Unterlagen-Archivs ist. Dafür brauchen wir alle Unterstützung, auch von denjenigen, die Sorge haben, dass hier etwas verloren gehen könnte.

 

Herr Zimmermann, halten Sie die Überführung der Symbolinstitution Stasi-Unterlagen-Behörde unter das Dach des Bundesarchivs grundsätzlich für richtig?
Olaf Zimmermann: Es geht jetzt erst einmal um die Frage, was mit den Akten passiert. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer braucht man eine Regelung, die auf Dauer angelegt ist. Die diese Akten sichert, aber nach den normalen Regeln für alle Menschen auch Zugang zu diesen Akten schafft. Also nicht nur für die unmittelbaren Opfer, die jetzt schon den Zugang haben. Nach 30 Jahren reden wir von mindestens einer Generation nach dem Zusammenbruch der DDR. Wir müssen überlegen, wie wir diesen erinnerungskulturellen Bereich überhaupt für die nachfolgenden Generationen dauerhaft wachhalten können. Daher halte ich es von beiden Akteuren, Bundesarchiv und Stasi-Unterlagenbehörde, für richtig und mutig zu sagen, dass sie diese Transformation jetzt vornehmen. Die Akten müssen so konserviert werden, dass sie noch über Hunderte von Jahren erhalten bleiben. Sie müssen in einer normalen, archivmäßigen Weise zugänglich sein. Und wir müssen für diesen Inhalt eine erweiterte Öffentlichkeit schaffen. Deswegen geht es nicht allein um Akten, sondern es geht auch um die authentischen Orte, z. B. die ehemalige Stasi-Zentrale in Lichtenberg.
Hollmann: Es gibt mittlerweile viele Menschen in diesem Land, vor allem mit Migrationshintergrund, die sich mit Deutschland identifizieren, aber weder eine persönliche Verbindung zum Dritten Reich noch eine zur deutschen Teilung haben. Für diese Bundesbürger muss die deutsche Geschichte genauso zugänglich gemacht werden. Auch künftig sollen vor allem die Opfer der Stasi sich eine klare und deutliche Vorstellung davon machen können, was ihnen angetan wurde. Aber darüber hinaus muss das SED-System für alle transparent gemacht werden, die keinen biografischen Ansatzpunkt haben.
Jahn: Für uns ist es ein Spagat. Es gilt heute und in absehbarer Zukunft, den Opfern gerecht zu werden, das ist unser Auftrag. Aber es gilt auch, die Brücke zur nächsten Generation zu bauen. Da geht es um grundsätzliche Fragestellungen, z. B. wer was mit welchem Ziel damals aufgeschrieben hat? Es geht um die Befähigung, mit Informationen und deren Quellen umzugehen; es geht um den Transparenzgedanken in dieser Gesellschaft, das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Dazu kann auch die Hinterlassenschaft einer Diktatur, also die Dokumentation des Unrechts, beitragen. Es geht um ein Archiv für das demokratische Bewusstsein. Dazu nutzen wir auch die historischen Orte. Wir nutzen den musealen Charakter, den besonders die Stasi-Unterlagen auch haben. Sie wirken für viele wie ein Monument eines Überwachungsstaates.

 

Das klingt bei Ihnen dreien ein wenig so, als hätten Sie die Sorge, dass der bisherige Charakter der eigenständigen, im Wesentlichen auf Opfer und den Raum der ehemaligen DDR bezogenen Institutionen zwar diese Gruppe inkludiert, aber die Gruppe der Menschen darüber hinaus, die man interessieren, gewinnen, informieren möchte, ein Stück weit ausschließt.
Hollmann: So ist es doch auch. Wenn Sie sich das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) anschauen, stellen Sie fest, dass es ein Datenschutzgesetz ist. Es sagt prinzipiell: Der Umgang mit den Stasi-Akten ist verboten, es sei denn, er ist ausdrücklich und für klar definierte Zwecke erlaubt. Und diese Zwecke orientieren sich fast ausschließlich an den Interessen der Stasi-Opfer. Dagegen ist es für wissenschaftliche Anliegen oft schwierig, die Stasi-Unterlagen für ihre Forschung nutzen zu können. Im StUG wird kein Wissenschaftsbegriff im weiten und übertragenen Sinne angewandt, sondern es fokussiert den Zugang sehr stark auf die Stasi und ihre Tätigkeit im engeren Sinne. Dagegen ist ein Archivgesetz wie das Bundesarchivgesetz ein Informationsfreiheitsgesetz. Es gibt formale Regeln für den Zugang zu Archivgut für jedermann, wobei personenbezogene Unterlagen in der Regel erst nach längeren Fristen als nicht personenbezogene frei zugänglich sind. Vor allem spielt der Zweck, für den Sie die Akten oder das Archiv insgesamt nutzen wollen, für die Frage nach dem Zugang keine Rolle. Das ist ein Übergang, den wir auch für die Stasi-Unterlagen langsam, aber sicher hinbekommen müssen. Das bisherige Regelwerk hatte seinen Wert und seine Notwendigkeit in der Frühphase einer vereinigten Bundesrepublik, in der es vor allem darum ging, dass die Stasi-Opfer zu ihrem Recht gelangen können. Aber im Laufe der Zeit – und immer mit Blick auf die berechtigten Interessen der Betroffenen – muss der Zugangsmodus sich dahin wandeln, dass die Stasi-Unterlagen genutzt werden können wie normales Archivgut, also ohne Bewertung des Nutzungszwecks.

 

Da ist Roland Jahn ein bisschen skeptisch …
Jahn: Nein, aber mein Blickwinkel ist anders. Ich gehe natürlich von dem Anliegen aus, was die Bürgerinnen und Bürger, die diese Unterlagen erobert haben, damit verbinden: den Transparenzgedanken des staatlichen Handelns und den Datenschutz für die Bürger. Das ist für mich der Gedanke von Informationsfreiheit.

 

Widerspricht dieser Gedanke dem, was Michael Hollmann sagt?
Jahn: Nicht unbedingt. Aber vielleicht in der Begrifflichkeit. Ich sehe das Stasi-Unterlagen-Gesetz auch als eines der Informationsfreiheitsgesetze, die auf den Weg gebracht worden sind. Den politischen Gedanken des Anspruchs auf Transparenz staatlichen Handelns, wie er in der Revolution formuliert wurde, sehe ich als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft, in der gleichzeitig aber Bürgerinnen und Bürger sowohl vor dem Zugriff des Staates als auch vor dem Missbrauch von Informationen über diese Menschen geschützt sind. Das ist zu bedenken bei der Gestaltung zukünftiger Zugangsregeln.
Zimmermann: Das ist ein Punkt, der nur in einer gewissen Zeitschiene funktionieren kann. Irgendwann haben die Opfer, zumindest zu einem ganz erheblichen Teil, diesen Zugang genutzt. Haben sich damit auseinandergesetzt. Jetzt stehen wir, glaube ich, vor der Phase, dass die Stasi-Akten in eine Normalität überführt werden müssen, in eine Archiv-Normalität. Die große Herausforderung besteht nicht primär in der Frage, wie wir die Stasi-Akten unterbringen. Sie besteht darin, wie wir etwas in Erinnerung und Diskussion halten, was zeitlich immer mehr nach hinten rückt. Der Anteil der Menschen, die unmittelbar davon betroffen gewesen sind, wird biologisch gesehen immer kleiner. Es ist nicht direkt vergleichbar, aber wir machen uns auch Gedanken, wie wir weiter an die Shoah erinnern, wenn die Überlebenden, die Zeitzeugen, verstorben sind. Ich wünschte mir, wir hätten schon vor 30 Jahren ganz intensiv über diese Fragen nachgedacht. Wir sind hier, was die Aufarbeitung der Stasi, die Aufarbeitung dieser Diktatur angeht, weiter – auch konzeptionell.

 

Herr Hollmann, das ist nicht die erste Bestandserweiterung des Bundesarchivs. Vor ca. einem Jahr haben Sie Unterlagen ehemaliger deutscher Wehrmachtsangehöriger und die Auskunftsstelle für deren Angehörige und Nachkommen übernommen. Jetzt kriegen Sie eine Einrichtung, die pro Jahr immer noch zwischen 40.000 und 60.000 Anträge auf Akteneinsicht erhält, dazu. Für wen wird sich mehr ändern? Für das Bundesarchiv als neue verantwortliche Behörde oder für die derzeit noch 13 Orte, an denen die Stasi-Unterlagen lagern und eingesehen werden können?
Hollmann: Ändern wird sich für beide eine ganze Menge. Das Bundesarchiv wird nach der Integration des Stasi-Unterlagen-Archivs seinen Job – so nenne ich es einmal ganz flapsig – in Bezug auf die Erhaltung des Archivguts einfach weiter tun müssen, dann allerdings für einen deutlich vergrößerten Archivgutbestand, der zu einem bedeutenden Teil sehr prekär untergebracht ist.
Zu den mehr als 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarchivs werden über 1.400 neue Kolleginnen und Kollegen des Stasi-Unterlagen-Archivs hinzukommen. Sie werden – ich meine es ganz positiv – insofern eine deutliche Erweiterung ihres fachlichen Spektrums erfahren, das im Moment zwangsläufig auf eine bestimmte Überlieferung und auf die Zugänglichmachung unter speziellen Randbedingungen konzentriert ist. Meine große Hoffnung ist, dass wir die Grenzen zwischen dem „alten“ Bundesarchiv und dem Bereich des Stasi-Unterlagen-Archivs möglichst rasch abbauen und den „Binnentransfer“ innerhalb des dann ziemlich großen Bundesarchivs organisieren können, in dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch einmal von der einen in eine andere Abteilung überwechseln können. Wir müssen viel voneinander lernen und Professionalisierungen in beide Richtungen erreichen. Die Kolleginnen und Kollegen des Stasi-Unterlagen-Archivs werden die Veränderungen unter Umständen auch als Kontrollverlust empfinden. Bisher müssen sie, weil das Gesetz das so will, vor allem im Blick haben: Wer will zu welchem Zweck die Stasi-Unterlagen nutzen? Mit dem aus der Zweckfreiheit der Archivgutnutzung resultierenden Kontrollverlust müssen wir im Bundesarchiv seit dem Bundesarchivgesetz von 1988 ebenso umgehen wie alle deutschen Staatsarchive. Ich habe diese Veränderung selbst biografisch als Nutzer und Archivar mitgemacht. Man kann Archivgut nicht mehr einfach der Nutzung entziehen, denn es kommen Benutzer und fordern: „Diese Akten will ich jetzt haben. Ich habe einen Anspruch darauf!“

Jahn: Dabei ist zu betonen, dass das Stasi-Unterlagen-Gesetz als Gesetz, das den Zugang zu den Unterlagen regelt, weiter existieren wird.
Es wird natürlich angepasst. Dort, wo derzeit der Bundesbeauftragte und seine Behörde im Gesetz in der Verantwortung stehen, wird dann das Bundesarchiv in der Verantwortung stehen. Das Entscheidende für die Bürgerinnen und Bürger ist, dass sie weiter nach klaren rechtsstaatlichen Regeln in die Unterlagen schauen können; und wie bisher auch die Angehörigen von Verstorbenen diese Unterlagen nutzen können und dass auch die öffentlichen Stellen diese Unterlagen weiter nutzen können. Die Unterlagen stehen für Forschung und Bildung zur Verfügung. Und die Kommunikation des Stasi-Unterlagen-Archivs analog wie im digitalen Raum, z. B. durch die Stasi-Mediathek gehören weiter dazu. Das ist dann die Brücke zur nächsten Generation.
Hollmann: Der Fokus liegt heute immer noch sehr ausschließlich auf der Stasi, auf der Bewältigung der SED-Diktatur und dem, was diese Diktatur ihren Opfern angetan hat. Wir werden das weiten müssen. Es muss z. B. möglich sein, dass in 20 Jahren jemand Stasi-Unterlagen nutzt, nicht, um sich mit der Stasi auseinanderzusetzen, sondern die Tonbänder oder die Mitschriften nimmt, um als Sprachwissenschaftler die Alltagssprache in der DDR zu erforschen. Das sind Zugänge, die im Moment nur sehr bedingt stattfinden können. Die ganze Breite dessen, was wissenschaftliche Forschung bedeuten kann, muss sich irgendwann auch mit den Stasi-Unterlagen auseinandersetzen können. Uns ist klar, dass das ein Prozess ist, der sich auf der Zeitschiene allmählich vollziehen wird. Das entspricht letztlich auch dem Geist des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. In dem Maße, in dem Betroffenheit, auch persönliche Betroffenheit, abnimmt, kann die Nutzbarkeit für andere Fragestellungen zunehmen.
Zimmermann: Eine wesentliche Frage ist doch: Welche Rolle spielen Archive oder Daten in der Zukunft? Herr Hollmann hat gerade klargemacht, dass nach dem Bundesarchivgesetz im Grunde jeder Bürger einen Anspruch auf Nutzung von archivierten Beständen hat. Ein entscheidender Punkt ist: Daten sind letztendlich auch politische Machtquellen, mit denen man eine Gesellschaft gestalten kann. Das Informationsfreiheitsgesetz ist nicht nur ein Gesetz, sondern es ist auch eine Idee, wie man in einer Demokratie mit Informationen umgeht. Im Moment erleben wir eine stärkere Repression: Die großen, auch digitalen Strukturen bieten nur unzureichenden Zugang zu spezifischen Informationen. Man hat viele Informationen, aber bestimmte Informationen werden einem entzogen. Deswegen sind Archive, wo wir als Bürger einen Rechtsanspruch auf Zugang haben, extrem wichtig.
Hollmann: In dem Moment, in dem wir uns der Erschließungsinformationen „entäußern“ und sie sogar ins Internet stellen, geben wir als Archivarinnen und Archivare ein Stück Kontrolle auf. Das ist aber unausweichlich, wenn der Gesetzgeber sagt: Wenn es keinen legitimen Grund für eine Versagung gibt – und das sind nur wenige Gründe – ist Archivgut nach spätestens 30 Jahren für jedermann frei zugänglich. Auf diese Errungenschaft sind wir stolz! Da damit den Archivarinnen und Archivaren ein Stück ihrer früheren gefühlten Machtposition genommen wurde, bedurfte es eines Bewusstseinswandels. Nun hat sich die Rolle von Archivarinnen und Archivaren deutlich verändert: Sie übernehmen Unterlagen in ihre Archive und müssen sich Gedanken machen, wie sie das Archivgut einem möglichst breiten Publikum für möglichst vielseitige Nutzung zur Verfügung stellen.

 

Einer der Kritikpunkte am Überführungskonzept der Stasi-Unterlagen ins Bundesarchiv ist, dass die derzeit noch zwölf Außenstellen in den neuen Ländern auf fünf reduziert werden sollen – eine pro Bundesland. Der Vorwurf lautet, damit würden historische Orte getilgt und Bürgern der Zugang zu eigener Geschichte erschwert.
Jahn: Das Gegenteil ist der Fall: Das Konzept für die Außenstellen an historischen Standorten wurde in Absprache mit den Landesregierungen und vielen anderen Akteuren in den ostdeutschen Bundesländern entwickelt. Die Gedenkstättenlandschaft in den Ländern hat sich seit den 1990er Jahren auch verändert. Wenn wir Zukunft gestalten wollen, müssen wir mit den Realitäten umgehen. In den Außenstellen wird Akteneinsicht vor Ort im Verhältnis zu den Anträgen wenig wahrgenommen. Viel läuft über Kopien auf dem Dienstweg, zudem wird die Digitalisierung die Nutzung weiter verändern. Trotzdem werden wir mit den Außenstellen weiter präsent sein, weil auch die Bundesländer noch mal deutlich gemacht haben, dass die Unterlagen nicht nur in den ehemaligen DDR-Bezirken angelegt worden sind, sondern dort auch von den Bürgern erobert wurden. Dem tragen wir Rechnung, indem wir dafür sorgen, dass die Unterlagen in den ostdeutschen Bundesländern bleiben. Für die Stellen, an denen wir in Zukunft die Archivstandorte bündeln, bitten wir den Bundestag zu investieren, um eine dauerhafte archivgerechte Lagerung zu ermöglichen. Pro Bundesland soll es einen Archivbau an einem historischen Ort geben. An den Standorten ohne eigenen Archivbau werden wir dafür Sorge tragen, dass die Angebote an Information, an Beratung, an Möglichkeit zur Akteneinsicht dort weiterhin erhalten bleiben.
Hollmann: Im Zuge der Digitalisierung nimmt die Bedeutung des konkreten Aufbewahrungsorts von Archivgut deutlich ab. Im Bundesarchiv ist heute schon Praxis, dass wir Archivgut in größerem Stil digitalisieren. Und wenn ein rechtefreies Digitalisat vorliegt, kann dies schon heute online genutzt werden. Ist es nicht rechtefrei, kann es in den Lesesälen des Bundesarchivs zugänglich gemacht werden – und zwar in jedem, unabhängig vom Verwahrort des Originals. Sie müssen dann nicht mehr, wenn Sie Akten der Gestapo einsehen wollen, nach Berlin fahren, die Digitalisate stehen Ihnen in gleicher Weise auch in Freiburg, Koblenz oder Bayreuth zur Verfügung. Genauso wird es mit den Stasi-Unterlagen sein, die schon heute in der Regel nicht im Original, sondern in einer kopierten Form vorgelegt werden. In Zukunft wird man auch in Rostock, Leipzig oder Suhl eine Stasi-Akte, deren Original in Berlin liegt, als Digitalisat zu sehen bekommen. Das heißt, wir bringen die Dinge viel stärker zusammen – und das dann verbunden mit den übrigen Unterlagen zur DDR-Geschichte, die schon jetzt im Bundesarchiv verwahrt werden.

 

Zimmermann: Ich würde diese „Überführung“ ganz gern als Chance sehen, um noch mal einen deutlichen Schritt weiterzugehen als bisher. So gut wir uns bei dem Stasi-Unterlagen-Gesetz mit den Akten beschäftigt haben, so schlecht haben wir das Erinnern an die DDR organisiert. Das ist kein Ruhmesblatt. Ich finde es schon erstaunlich, dass wir kein öffentliches DDR-Museum haben. Wir haben zwar im Deutschen Historischen Museum oder im Haus der Geschichte in Bonn Abteilungen, die sich auch mit der DDR beschäftigen. Aber die Frage, wie wir erinnern, ist hauptsächlich privatisiert worden. Denken sie an das private DDR Museum oder das ebenfalls private Museum am Checkpoint Charlie. Wir haben auch erstaunlich wenig authentische Orte – wenn man sich vorstellt, dass da immerhin mal eine Mauer quer durch Deutschland gelaufen ist, eine Mauer Berlin teilte. Heute kann man sehen, wie wenig davon erhalten wurde. Einer der größten noch authentischen Bereiche ist die ehemalige Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße. Sie müsste einer der zentralen Orte werden, an denen wir uns auch museal mit DDR-Geschichte und damit verbundener deutsch-deutscher Geschichte auseinandersetzen.
Dort besteht ein unglaublicher Vorteil gegenüber einer klassischen Museumsstruktur. Wenn ich in ein Gebäude hereingehe und die spießigen Wohn- und Arbeitsräume des ehemaligen Ministers für Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke, sehen kann, ist das was anderes, als wenn ich sie auf einem Bild sehe oder einen Text darüber lese. Um die DDR für Menschen verstehbar zu machen, die dort nicht gelebt haben, so wie ich, aber auch für meine Kinder und Kindeskinder, wird man eine andere Möglichkeit entwickeln und noch weitergehen müssen, als man bisher gegangen ist.
Hollmann: Das Stasi-System muss im Kontext verstehbar gemacht werden. Das heißt nicht nur im Kontext von Information, sondern auch im Kontext des Ortes. Die zentralen Orte, an denen wir aus Erinnerung auch Kultur machen wollen, braucht es schon. Ich finde es fatal, dass in den letzten Jahren der Begriff der Erinnerungskultur so weitgehend auf das Themenfeld des Holocausts beschränkt wurde. Es ist richtig, dass wir es in Deutschland – mit erheblicher Nachhilfe aus dem Ausland – zu einem integralen Teil unserer Kultur gemacht haben, uns auch der schlimmen Seiten der deutschen Geschichte zu erinnern und zu versuchen, diese nicht auf die Glanzseiten beschränkte Erinnerung für die demokratische Weiterentwicklung unseres Landes fruchtbar zu machen. Diese Form der Erinnerungskultur muss auf das Thema DDR und SED-Diktatur ausgeweitet werden. Es reicht nicht aus, in der Schule zu lernen, dass es in der DDR ein diktatorisches System gab, man muss dieses Wissen auch vor Ort erfahrbar und damit kulturell fruchtbar machen.
Jahn: Das Stasi-Unterlagen-Archiv bleibt am historischen Ort in Berlin-Lichtenberg und dann auch an historischen Orten in den Ländern präsent. Es ist der klare Auftrag des Deutschen Bundestages, mit der Transformation auch den Ort der ehemaligen Stasi-Zentrale zu nutzen. Zusätzlich sollen weitere Bestände des Bundesarchivs zur DDR dorthin kommen, um dort in einem Archivzentrum, in dem auch Digitalisierung und Bestandserhaltung großgeschrieben werden, dafür Sorge zu tragen, dass hier der Austausch stattfinden kann, eingebettet an diesem historischen Ort, der sowohl Diktatur- als auch Demokratiegeschichte darstellt. Wir freuen uns auch, dass das Land Berlin kürzlich beschlossen hat, das Gelände als Campus für Demokratie weiterzuentwickeln.
Hollmann: Aber dieser Campus – wer auch immer sich darauf ansiedelt – ist nicht dazu da, um ex cathedra dogmatisch zu erklären: So war das in der DDR. Dieser Ort muss vielmehr eine Einladung sein an jeden, der sich mit dem Thema DDR und Stasi auseinandersetzen will, mit den Räumlichkeiten, mit dem lesbar und intellektuell Erfahrbaren. Man soll sich an diesem Ort selbst ein Bild machen können – nur so kommt das Vetorecht der Quellen zur Geltung.
Zimmermann: So ein Ort muss dann natürlich auch eine Bedeutung in der Kulturpolitik haben, die dieser Einladung entspricht. Wir geben eine ganze Menge Geld für Orte aus, zu denen wir einladen. Ob wir Schlösser wiederaufbauen oder ganz neue Museen für zeitgenössische Kunst bauen – das kostet viel Geld. Ob überall in der Bundespolitik schon bewusst ist, dass die Gestaltung dieses Ortes zusätzlich kosten wird, und ob überall der Wille vorhanden ist, dies in den nächsten fünf bis acht Jahren auch zu schaffen – da habe ich Zweifel.
Hollmann: Im Moment stehen wir vor der aus meiner Sicht günstigen Situation, dass der Bund, und zwar durch Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien als auch ganz offensichtlich durch den Bundestag, erklärt hat, man werde diese Überführung der Stasi-Unterlagen unter das Dach des Bundesarchivs nicht dazu nutzen, irgendwelche Effizienzrenditen einzufahren und Geld einzusparen. Wir haben die Zusage, dass die Haushalte von Bundesarchiv und BStU zunächst vollständig addiert werden und dass es zusätzliche Mittel für dringend notwendige Investitionen geben wird.
Zimmermann: Und die reichen?
Hollmann: Es werden keine Zahlen genannt, sondern es wurde gesagt, man werde die notwendigen Mittel, z. B. für die baulichen Maßnahmen und die digitale Infrastruktur, zur Verfügung stellen. Daran werden wir natürlich, wenn nötig, immer wieder erinnern.

 

Roland Jahn, so oder so werden Sie der BStU-Chef sein, der aktiv das Ende seiner Behörde in der bekannten Form betrieb. Was muss passieren, dass man in 20 Jahren sagt: „War gut, dass er das gemacht hat“?
Jahn: Es geht darum, diese Trophäe der Revolution weiter hochzuhalten. Aber wenn wir die Rolle von Archiven als Stützpfeiler der Demokratie sehen, geht es auch darum, dass die Stasi-Unterlagen Teil des nationalen Gedächtnisses sind. Wir können dadurch deutlich machen, dass wir deutsche Einheit leben, dass wir diesen Teil deutsch-deutscher Geschichte in den nächsten Generationen als einen eigenen Teil deutscher Geschichte annehmen, auch wenn jemand z. B. in Saarbrücken geboren ist. Für mich ist wichtig, dass wir jetzt die Zukunft der Akten sichern. Gleichzeitig hat der Deutsche Bundestag klargemacht, dass Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen nicht einfach abgeschafft wird, sondern der Beauftragte für die Akten zu einem Beauftragten für die Menschen weiterentwickelt werden soll: zu einem Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur. So- lange die Opfer leben, ist es wichtig, dass jemand für sie da ist. Eine – wie jetzt bereits – direkt vom Parlament gewählte Institution, damit die Opfer, solange sie leben, nicht auf der Strecke bleiben.
Hollmann: Wir werden uns darum bemühen, durch gute Arbeit dafür zu sorgen, dass man in 20 Jahren sagt: „Herr Jahn hatte recht“.

 

Herr Zimmermann, von Ihnen ging die Initiative für dieses Gespräch aus, nehmen Sie positive Aspekte daraus mit?
Zimmermann: Hier bemühen sich Menschen sehr intensiv, das Erinnern über ein Archiv in die Zukunft zu tragen, das finde ich mutig und gut. Besonders das, was Herr Jahn gemacht hat, finde ich couragiert. Er wird seinem Auftrag gerecht, einen Weg zu finden, wie man nachhaltig mit Erinnerungskultur umgeht. Es ist dann jetzt auch die Aufgabe von Herrn Hollmann, sicherzustellen, dass die Bestände nachhaltig erhalten bleiben. Das wird auch noch eine Menge politischer Forderungen bedeuten, weil es nur funktionieren kann, wenn noch einmal kräftig in den Erhalt investiert wird, damit man auch in hundert Jahren noch auf die Archivalien zugreifen kann. Und ich habe das positive Gefühl, dass man gemeinsam versuchen will, etwas zu tun, was der besonderen Bedeutung des authentischen Ortes „Normannenstraße“ gerecht wird. Es ist wichtig, zu erkennen, dass wir dort – ein bisschen ab vom Zentrum Berlins – einen ganz besonderen Ort haben, der sich für die künftigen Generationen als wichtiger Erinnerungsort erweisen wird.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.

Roland Jahn, Michael Hollmann, Olaf Zimmermann und Hans Jessen
Roland Jahn ist Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BstU). Michael Hollmann ist Präsident des Deutschen Bundesarchivs. Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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