111 Kilometer Aktenbestände, 2 Millionen Fotos, 23.000 Tondokumente

Die Überführung der Stasi-Unterlagen ins Bundesarchiv

 

Das klingt bei Ihnen dreien ein wenig so, als hätten Sie die Sorge, dass der bisherige Charakter der eigenständigen, im Wesentlichen auf Opfer und den Raum der ehemaligen DDR bezogenen Institutionen zwar diese Gruppe inkludiert, aber die Gruppe der Menschen darüber hinaus, die man interessieren, gewinnen, informieren möchte, ein Stück weit ausschließt.
Hollmann: So ist es doch auch. Wenn Sie sich das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) anschauen, stellen Sie fest, dass es ein Datenschutzgesetz ist. Es sagt prinzipiell: Der Umgang mit den Stasi-Akten ist verboten, es sei denn, er ist ausdrücklich und für klar definierte Zwecke erlaubt. Und diese Zwecke orientieren sich fast ausschließlich an den Interessen der Stasi-Opfer. Dagegen ist es für wissenschaftliche Anliegen oft schwierig, die Stasi-Unterlagen für ihre Forschung nutzen zu können. Im StUG wird kein Wissenschaftsbegriff im weiten und übertragenen Sinne angewandt, sondern es fokussiert den Zugang sehr stark auf die Stasi und ihre Tätigkeit im engeren Sinne. Dagegen ist ein Archivgesetz wie das Bundesarchivgesetz ein Informationsfreiheitsgesetz. Es gibt formale Regeln für den Zugang zu Archivgut für jedermann, wobei personenbezogene Unterlagen in der Regel erst nach längeren Fristen als nicht personenbezogene frei zugänglich sind. Vor allem spielt der Zweck, für den Sie die Akten oder das Archiv insgesamt nutzen wollen, für die Frage nach dem Zugang keine Rolle. Das ist ein Übergang, den wir auch für die Stasi-Unterlagen langsam, aber sicher hinbekommen müssen. Das bisherige Regelwerk hatte seinen Wert und seine Notwendigkeit in der Frühphase einer vereinigten Bundesrepublik, in der es vor allem darum ging, dass die Stasi-Opfer zu ihrem Recht gelangen können. Aber im Laufe der Zeit – und immer mit Blick auf die berechtigten Interessen der Betroffenen – muss der Zugangsmodus sich dahin wandeln, dass die Stasi-Unterlagen genutzt werden können wie normales Archivgut, also ohne Bewertung des Nutzungszwecks.

 

Da ist Roland Jahn ein bisschen skeptisch …
Jahn: Nein, aber mein Blickwinkel ist anders. Ich gehe natürlich von dem Anliegen aus, was die Bürgerinnen und Bürger, die diese Unterlagen erobert haben, damit verbinden: den Transparenzgedanken des staatlichen Handelns und den Datenschutz für die Bürger. Das ist für mich der Gedanke von Informationsfreiheit.

 

Widerspricht dieser Gedanke dem, was Michael Hollmann sagt?
Jahn: Nicht unbedingt. Aber vielleicht in der Begrifflichkeit. Ich sehe das Stasi-Unterlagen-Gesetz auch als eines der Informationsfreiheitsgesetze, die auf den Weg gebracht worden sind. Den politischen Gedanken des Anspruchs auf Transparenz staatlichen Handelns, wie er in der Revolution formuliert wurde, sehe ich als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft, in der gleichzeitig aber Bürgerinnen und Bürger sowohl vor dem Zugriff des Staates als auch vor dem Missbrauch von Informationen über diese Menschen geschützt sind. Das ist zu bedenken bei der Gestaltung zukünftiger Zugangsregeln.
Zimmermann: Das ist ein Punkt, der nur in einer gewissen Zeitschiene funktionieren kann. Irgendwann haben die Opfer, zumindest zu einem ganz erheblichen Teil, diesen Zugang genutzt. Haben sich damit auseinandergesetzt. Jetzt stehen wir, glaube ich, vor der Phase, dass die Stasi-Akten in eine Normalität überführt werden müssen, in eine Archiv-Normalität. Die große Herausforderung besteht nicht primär in der Frage, wie wir die Stasi-Akten unterbringen. Sie besteht darin, wie wir etwas in Erinnerung und Diskussion halten, was zeitlich immer mehr nach hinten rückt. Der Anteil der Menschen, die unmittelbar davon betroffen gewesen sind, wird biologisch gesehen immer kleiner. Es ist nicht direkt vergleichbar, aber wir machen uns auch Gedanken, wie wir weiter an die Shoah erinnern, wenn die Überlebenden, die Zeitzeugen, verstorben sind. Ich wünschte mir, wir hätten schon vor 30 Jahren ganz intensiv über diese Fragen nachgedacht. Wir sind hier, was die Aufarbeitung der Stasi, die Aufarbeitung dieser Diktatur angeht, weiter – auch konzeptionell.

 

Herr Hollmann, das ist nicht die erste Bestandserweiterung des Bundesarchivs. Vor ca. einem Jahr haben Sie Unterlagen ehemaliger deutscher Wehrmachtsangehöriger und die Auskunftsstelle für deren Angehörige und Nachkommen übernommen. Jetzt kriegen Sie eine Einrichtung, die pro Jahr immer noch zwischen 40.000 und 60.000 Anträge auf Akteneinsicht erhält, dazu. Für wen wird sich mehr ändern? Für das Bundesarchiv als neue verantwortliche Behörde oder für die derzeit noch 13 Orte, an denen die Stasi-Unterlagen lagern und eingesehen werden können?
Hollmann: Ändern wird sich für beide eine ganze Menge. Das Bundesarchiv wird nach der Integration des Stasi-Unterlagen-Archivs seinen Job – so nenne ich es einmal ganz flapsig – in Bezug auf die Erhaltung des Archivguts einfach weiter tun müssen, dann allerdings für einen deutlich vergrößerten Archivgutbestand, der zu einem bedeutenden Teil sehr prekär untergebracht ist.
Zu den mehr als 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarchivs werden über 1.400 neue Kolleginnen und Kollegen des Stasi-Unterlagen-Archivs hinzukommen. Sie werden – ich meine es ganz positiv – insofern eine deutliche Erweiterung ihres fachlichen Spektrums erfahren, das im Moment zwangsläufig auf eine bestimmte Überlieferung und auf die Zugänglichmachung unter speziellen Randbedingungen konzentriert ist. Meine große Hoffnung ist, dass wir die Grenzen zwischen dem „alten“ Bundesarchiv und dem Bereich des Stasi-Unterlagen-Archivs möglichst rasch abbauen und den „Binnentransfer“ innerhalb des dann ziemlich großen Bundesarchivs organisieren können, in dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch einmal von der einen in eine andere Abteilung überwechseln können. Wir müssen viel voneinander lernen und Professionalisierungen in beide Richtungen erreichen. Die Kolleginnen und Kollegen des Stasi-Unterlagen-Archivs werden die Veränderungen unter Umständen auch als Kontrollverlust empfinden. Bisher müssen sie, weil das Gesetz das so will, vor allem im Blick haben: Wer will zu welchem Zweck die Stasi-Unterlagen nutzen? Mit dem aus der Zweckfreiheit der Archivgutnutzung resultierenden Kontrollverlust müssen wir im Bundesarchiv seit dem Bundesarchivgesetz von 1988 ebenso umgehen wie alle deutschen Staatsarchive. Ich habe diese Veränderung selbst biografisch als Nutzer und Archivar mitgemacht. Man kann Archivgut nicht mehr einfach der Nutzung entziehen, denn es kommen Benutzer und fordern: „Diese Akten will ich jetzt haben. Ich habe einen Anspruch darauf!“

Roland Jahn, Michael Hollmann, Olaf Zimmermann und Hans Jessen
Roland Jahn ist Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BstU). Michael Hollmann ist Präsident des Deutschen Bundesarchivs. Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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