111 Kilometer Aktenbestände, 2 Millionen Fotos, 23.000 Tondokumente

Die Überführung der Stasi-Unterlagen ins Bundesarchiv

Jahn: Dabei ist zu betonen, dass das Stasi-Unterlagen-Gesetz als Gesetz, das den Zugang zu den Unterlagen regelt, weiter existieren wird.
Es wird natürlich angepasst. Dort, wo derzeit der Bundesbeauftragte und seine Behörde im Gesetz in der Verantwortung stehen, wird dann das Bundesarchiv in der Verantwortung stehen. Das Entscheidende für die Bürgerinnen und Bürger ist, dass sie weiter nach klaren rechtsstaatlichen Regeln in die Unterlagen schauen können; und wie bisher auch die Angehörigen von Verstorbenen diese Unterlagen nutzen können und dass auch die öffentlichen Stellen diese Unterlagen weiter nutzen können. Die Unterlagen stehen für Forschung und Bildung zur Verfügung. Und die Kommunikation des Stasi-Unterlagen-Archivs analog wie im digitalen Raum, z. B. durch die Stasi-Mediathek gehören weiter dazu. Das ist dann die Brücke zur nächsten Generation.
Hollmann: Der Fokus liegt heute immer noch sehr ausschließlich auf der Stasi, auf der Bewältigung der SED-Diktatur und dem, was diese Diktatur ihren Opfern angetan hat. Wir werden das weiten müssen. Es muss z. B. möglich sein, dass in 20 Jahren jemand Stasi-Unterlagen nutzt, nicht, um sich mit der Stasi auseinanderzusetzen, sondern die Tonbänder oder die Mitschriften nimmt, um als Sprachwissenschaftler die Alltagssprache in der DDR zu erforschen. Das sind Zugänge, die im Moment nur sehr bedingt stattfinden können. Die ganze Breite dessen, was wissenschaftliche Forschung bedeuten kann, muss sich irgendwann auch mit den Stasi-Unterlagen auseinandersetzen können. Uns ist klar, dass das ein Prozess ist, der sich auf der Zeitschiene allmählich vollziehen wird. Das entspricht letztlich auch dem Geist des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. In dem Maße, in dem Betroffenheit, auch persönliche Betroffenheit, abnimmt, kann die Nutzbarkeit für andere Fragestellungen zunehmen.
Zimmermann: Eine wesentliche Frage ist doch: Welche Rolle spielen Archive oder Daten in der Zukunft? Herr Hollmann hat gerade klargemacht, dass nach dem Bundesarchivgesetz im Grunde jeder Bürger einen Anspruch auf Nutzung von archivierten Beständen hat. Ein entscheidender Punkt ist: Daten sind letztendlich auch politische Machtquellen, mit denen man eine Gesellschaft gestalten kann. Das Informationsfreiheitsgesetz ist nicht nur ein Gesetz, sondern es ist auch eine Idee, wie man in einer Demokratie mit Informationen umgeht. Im Moment erleben wir eine stärkere Repression: Die großen, auch digitalen Strukturen bieten nur unzureichenden Zugang zu spezifischen Informationen. Man hat viele Informationen, aber bestimmte Informationen werden einem entzogen. Deswegen sind Archive, wo wir als Bürger einen Rechtsanspruch auf Zugang haben, extrem wichtig.
Hollmann: In dem Moment, in dem wir uns der Erschließungsinformationen „entäußern“ und sie sogar ins Internet stellen, geben wir als Archivarinnen und Archivare ein Stück Kontrolle auf. Das ist aber unausweichlich, wenn der Gesetzgeber sagt: Wenn es keinen legitimen Grund für eine Versagung gibt – und das sind nur wenige Gründe – ist Archivgut nach spätestens 30 Jahren für jedermann frei zugänglich. Auf diese Errungenschaft sind wir stolz! Da damit den Archivarinnen und Archivaren ein Stück ihrer früheren gefühlten Machtposition genommen wurde, bedurfte es eines Bewusstseinswandels. Nun hat sich die Rolle von Archivarinnen und Archivaren deutlich verändert: Sie übernehmen Unterlagen in ihre Archive und müssen sich Gedanken machen, wie sie das Archivgut einem möglichst breiten Publikum für möglichst vielseitige Nutzung zur Verfügung stellen.

 

Einer der Kritikpunkte am Überführungskonzept der Stasi-Unterlagen ins Bundesarchiv ist, dass die derzeit noch zwölf Außenstellen in den neuen Ländern auf fünf reduziert werden sollen – eine pro Bundesland. Der Vorwurf lautet, damit würden historische Orte getilgt und Bürgern der Zugang zu eigener Geschichte erschwert.
Jahn: Das Gegenteil ist der Fall: Das Konzept für die Außenstellen an historischen Standorten wurde in Absprache mit den Landesregierungen und vielen anderen Akteuren in den ostdeutschen Bundesländern entwickelt. Die Gedenkstättenlandschaft in den Ländern hat sich seit den 1990er Jahren auch verändert. Wenn wir Zukunft gestalten wollen, müssen wir mit den Realitäten umgehen. In den Außenstellen wird Akteneinsicht vor Ort im Verhältnis zu den Anträgen wenig wahrgenommen. Viel läuft über Kopien auf dem Dienstweg, zudem wird die Digitalisierung die Nutzung weiter verändern. Trotzdem werden wir mit den Außenstellen weiter präsent sein, weil auch die Bundesländer noch mal deutlich gemacht haben, dass die Unterlagen nicht nur in den ehemaligen DDR-Bezirken angelegt worden sind, sondern dort auch von den Bürgern erobert wurden. Dem tragen wir Rechnung, indem wir dafür sorgen, dass die Unterlagen in den ostdeutschen Bundesländern bleiben. Für die Stellen, an denen wir in Zukunft die Archivstandorte bündeln, bitten wir den Bundestag zu investieren, um eine dauerhafte archivgerechte Lagerung zu ermöglichen. Pro Bundesland soll es einen Archivbau an einem historischen Ort geben. An den Standorten ohne eigenen Archivbau werden wir dafür Sorge tragen, dass die Angebote an Information, an Beratung, an Möglichkeit zur Akteneinsicht dort weiterhin erhalten bleiben.
Hollmann: Im Zuge der Digitalisierung nimmt die Bedeutung des konkreten Aufbewahrungsorts von Archivgut deutlich ab. Im Bundesarchiv ist heute schon Praxis, dass wir Archivgut in größerem Stil digitalisieren. Und wenn ein rechtefreies Digitalisat vorliegt, kann dies schon heute online genutzt werden. Ist es nicht rechtefrei, kann es in den Lesesälen des Bundesarchivs zugänglich gemacht werden – und zwar in jedem, unabhängig vom Verwahrort des Originals. Sie müssen dann nicht mehr, wenn Sie Akten der Gestapo einsehen wollen, nach Berlin fahren, die Digitalisate stehen Ihnen in gleicher Weise auch in Freiburg, Koblenz oder Bayreuth zur Verfügung. Genauso wird es mit den Stasi-Unterlagen sein, die schon heute in der Regel nicht im Original, sondern in einer kopierten Form vorgelegt werden. In Zukunft wird man auch in Rostock, Leipzig oder Suhl eine Stasi-Akte, deren Original in Berlin liegt, als Digitalisat zu sehen bekommen. Das heißt, wir bringen die Dinge viel stärker zusammen – und das dann verbunden mit den übrigen Unterlagen zur DDR-Geschichte, die schon jetzt im Bundesarchiv verwahrt werden.

 

Roland Jahn, Michael Hollmann, Olaf Zimmermann und Hans Jessen
Roland Jahn ist Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BstU). Michael Hollmann ist Präsident des Deutschen Bundesarchivs. Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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