111 Kilometer Aktenbestände, 2 Millionen Fotos, 23.000 Tondokumente

Die Überführung der Stasi-Unterlagen ins Bundesarchiv

In anderthalb Jahren, im Sommer 2021, wird die Stasi-Unterlagen-Behörde ins Bundesarchiv überführt. Das beschloss der Deutsche Bundestag im September letzten Jahres. Grundlage dafür ist ein Konzept, das der Präsident des Bundesarchivs, Michael Hollmann, und Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU), Roland Jahn, zusammen entwickelt haben. Gemeinsam mit Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, und Hans Jessen, freier Redakteur von Politik & Kultur, sprechen sie über die geplanten Änderungen und die notwendigen Weichenstellungen.

 

Hans Jessen: Herr Hollmann, was da auf Sie zukommt, ist materiell gewaltig: 111 Kilometer Aktenbestände, fast 2 Millionen Fotos, knapp 3.000 Filme, 23.000 Tondokumente kommen neu in Ihre Zuständigkeit. Die Vorstellung, dass Lastwagenkolonnen alles nach Koblenz karren, ist aber falsch. Wie haben wir uns die Übernahme real vorzustellen?
Michael Hollmann: Zunächst bleiben die Stasi-Unterlagen genau da, wo sie jetzt sind. Die Vorstellung, jetzt kommen alle Stasi-Akten ins Bundesarchiv und damit nach Koblenz, war schon vor 30 Jahren nicht richtig. Seit Jahrzehnten arbeitet das Bundesarchiv an mehreren Dienstorten; seit fast 60 Jahren gibt es die Abteilung Militärarchiv in Freiburg, und seit der Wiedervereinigung gibt es hier in Berlin gleich mehrere Dienststellen. Wir begreifen das Bundesarchiv schon seit Langem nicht mehr als ein Haus an einem Ort, sondern als ein nationales Zentralarchiv, das sich an mehreren Orten der Nutzung öffnet: Die Überlieferungen der Reichsbehörden aus der Zeit bis 1945 befinden sich ebenso in Berlin wie die Überlieferungen der DDR-Behörden, der SED und der Massenorganisationen der DDR. Die Überlieferungen der Bundesregierung und der Bundesbehörden seit 1949 werden in Koblenz und Bayreuth verwahrt, und alle militärischen Unterlagen verwaltet die Abteilung Militärarchiv in Freiburg.
Mit der Übernahme der Stasi-Unterlagen kommen zwölf weitere Archivstandorte hinzu, die mittelfristig auf fünf Standorte – einer je östliches Bundesland – zusammengeführt werden sollen. Dort hoffen wir dann vor allem, zunächst vernünftige Magazine bauen zu können, denn die Unterbringung der Stasi-Unterlagen ist an den meisten Standorten aktuell leider defizitär.

 

Herr Jahn, Menschen, die lange Jahre Ihre Bundesgenossen bei der Aufarbeitung des Stasi-Unterdrückungssystems waren, werfen Ihnen jetzt vor, mit der Abschaffung der eigenständigen Behörde einem historischen Schlussstrich zuzustimmen. Das heißt, diesen Teil der DDR-Geschichte sozusagen hinter Archivmauern zu begraben.
Roland Jahn: Ich nehme solche Meinungen durchaus ernst. Der Zugang zu den Stasi-Akten ist ein Symbol der friedlichen Revolution. Genau deshalb sind wir diesen Weg gegangen. Wir haben ein Konzept vorgelegt, das der Deutsche Bundestag bestätigt hat. Es ermöglicht eine dauerhafte Nutzung aller Stasi-Akten in ihrer Gesamtheit. Wir wollen, dass die Stasi-Unterlagen auch institutionell Teil des Gedächtnisses der Nation werden. Das Stasi-Unterlagen-Archiv hat als Hinterlassenschaft der Geheimpolizei einer Diktatur eine besondere Bedeutung. Gleichzeitig soll sich der Horizont erweitern: Die DDR war keine Stasi-Diktatur, sondern eine SED-Diktatur. Das spiegelt sich nicht allein in den Unterlagen der Staatssicherheit wider, sondern zusätzlich in vielen, vielen anderen Beständen des Bundesarchivs. Den Blick zu weiten auf das gesamte System, das soll in Zukunft noch besser gelingen, durch eine einfachere Gesamtbetrachtung, auch der Dokumente.

 

Unter denen, die skeptisch verhalten bis offen Ihrem Konzept widersprechen, sind viele, die an genau den Orten arbeiten, wo die Unterlagen gerade aufbewahrt werden. Warum ist dort die Skepsis so ausgeprägt?
Jahn: Die Sorge ist, dass hier ein Symbol geschliffen wird. Uns geht es aber genau darum, das Symbol hochzuhalten. Wir wollen die Voraussetzungen schaffen, dass die Akten, Fotos, Ton- und Filmdokumente auch in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten zur Verfügung stehen. Wer das Konzept durchliest, kann erkennen, wie wichtig uns die öffentliche Kommunikation des Stasi-Unterlagen-Archivs ist. Dafür brauchen wir alle Unterstützung, auch von denjenigen, die Sorge haben, dass hier etwas verloren gehen könnte.

 

Herr Zimmermann, halten Sie die Überführung der Symbolinstitution Stasi-Unterlagen-Behörde unter das Dach des Bundesarchivs grundsätzlich für richtig?
Olaf Zimmermann: Es geht jetzt erst einmal um die Frage, was mit den Akten passiert. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer braucht man eine Regelung, die auf Dauer angelegt ist. Die diese Akten sichert, aber nach den normalen Regeln für alle Menschen auch Zugang zu diesen Akten schafft. Also nicht nur für die unmittelbaren Opfer, die jetzt schon den Zugang haben. Nach 30 Jahren reden wir von mindestens einer Generation nach dem Zusammenbruch der DDR. Wir müssen überlegen, wie wir diesen erinnerungskulturellen Bereich überhaupt für die nachfolgenden Generationen dauerhaft wachhalten können. Daher halte ich es von beiden Akteuren, Bundesarchiv und Stasi-Unterlagenbehörde, für richtig und mutig zu sagen, dass sie diese Transformation jetzt vornehmen. Die Akten müssen so konserviert werden, dass sie noch über Hunderte von Jahren erhalten bleiben. Sie müssen in einer normalen, archivmäßigen Weise zugänglich sein. Und wir müssen für diesen Inhalt eine erweiterte Öffentlichkeit schaffen. Deswegen geht es nicht allein um Akten, sondern es geht auch um die authentischen Orte, z. B. die ehemalige Stasi-Zentrale in Lichtenberg.
Hollmann: Es gibt mittlerweile viele Menschen in diesem Land, vor allem mit Migrationshintergrund, die sich mit Deutschland identifizieren, aber weder eine persönliche Verbindung zum Dritten Reich noch eine zur deutschen Teilung haben. Für diese Bundesbürger muss die deutsche Geschichte genauso zugänglich gemacht werden. Auch künftig sollen vor allem die Opfer der Stasi sich eine klare und deutliche Vorstellung davon machen können, was ihnen angetan wurde. Aber darüber hinaus muss das SED-System für alle transparent gemacht werden, die keinen biografischen Ansatzpunkt haben.
Jahn: Für uns ist es ein Spagat. Es gilt heute und in absehbarer Zukunft, den Opfern gerecht zu werden, das ist unser Auftrag. Aber es gilt auch, die Brücke zur nächsten Generation zu bauen. Da geht es um grundsätzliche Fragestellungen, z. B. wer was mit welchem Ziel damals aufgeschrieben hat? Es geht um die Befähigung, mit Informationen und deren Quellen umzugehen; es geht um den Transparenzgedanken in dieser Gesellschaft, das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Dazu kann auch die Hinterlassenschaft einer Diktatur, also die Dokumentation des Unrechts, beitragen. Es geht um ein Archiv für das demokratische Bewusstsein. Dazu nutzen wir auch die historischen Orte. Wir nutzen den musealen Charakter, den besonders die Stasi-Unterlagen auch haben. Sie wirken für viele wie ein Monument eines Überwachungsstaates.

Roland Jahn, Michael Hollmann, Olaf Zimmermann und Hans Jessen
Roland Jahn ist Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BstU). Michael Hollmann ist Präsident des Deutschen Bundesarchivs. Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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