Haltung!

Eine erschreckende Aufforderung

Der Sportlehrer ordnete es an. Der Krankengymnast rät dazu. Meine Liebste erinnert mich daran, wenn mich mal Sorgen drücken oder ich als Schreibtischmensch mit zu wenig Auslauf den Rücken krumm mache: Aufrecht gehen! Kopf hoch! Brust raus! Haltung zeigen!

 

Das ist nicht das Verkehrteste. Körperlich wie innerlich. Und im übertragenen Sinn: sich nicht beugen. Rückgrat beweisen. Nicht nach unten treten und nach oben buckeln, wie ein Pedaltreter. Das tut nicht gut. Den Wirbeln nicht. Der Seele nicht. Und auch nicht dem Kopf.

 

Den sollte man immer oben tragen. Nicht stolz oder überheblich. Aber doch erhoben. Mit wachem, unverstelltem Blick. Weil man dann weiter schaut. Ohne Scheuklappen. Ohne Angst, ohne Furcht. Vor Oberen. Vor allzu wendigen Politikern, die sich selbst anderen beugen. Vor Volksverführern. Vor Ideologen und Verblendeten. Vor anderen, die meinen, uns ihre Meinung, ihre Weltsicht, ihre „Haltung“ aufdrängen zu können. Egal aus welcher Ecke.

 

Da erwacht mein Rebellengeist. Dem will ich mich nicht unterwerfen, weil es mich niederdrücken würde. Ich möchte meine eigene Sicht auf die Dinge um mich herum und vor allem auf Menschen entwickeln. Ohne Vorgaben. Ohne Voreingenommenheit. Ohne vorgefertigte Vor-Urteile. Ohne Instant-Versatzstücke aus ideologischem, fundamentalistischem, weltbeglückendem Blendwerk. Ob rechts, links, sozial, konservativ, religiös, agnostisch oder liberal in allen Schattierungen.

 

Ich möchte meine eigene Haltung herausbilden. Ohne Rücksicht. Ohne allzu große Vorsicht. Nur aus meiner Sicht. Und mit Sicht auf Werte, Anliegen und Menschen, die mir wichtig sind.

 

Doch mir begegnen heute überall Haltungen, die mir oft zuwider sind. Weil sie starr sind. Mit Blick auf den Körper hätte man früher gesagt: Er (oder sie) hat einen Besenstiel verschluckt. Der ersetzte dann das Rückgrat. Wie ein Korsett. Auch der Ansichten und Meinungen: Das darf „man“ nicht sagen, nicht einmal denken. Das geht gar nicht! Das ist intolerabel! Jenseits des zulässigen Meinungsspektrums.

 

Wieso? Wer legt das fest? Warum z. B. soll ich Fremde mit Misstrauen beäugen? Wer kann mir andererseits verordnen, den generischen Casus durch irgendwelche Gender-Verunstaltungen der Sprache in eine diverse Form zu wandeln? Wer maßt sich an, mir zu verbieten, andere nach ihrer Herkunft zu fragen, weil das angeblich diskriminierend sei? Obwohl es nur mein ehrliches Interesse an ihrer Person ausdrückt. Wozu ihre Prägung durch Familie, Abstammung, Kultur, Heimat gehört. Warum soll ich das ausblenden? Ich kann dadurch doch nur dazulernen, wenn ich mich auf andere Menschen einlasse mit ihrer Verschiedenheit, auch Fremdheit.

 

Manchmal habe ich das Gefühl, die immerzu verkündete „Haltung“ von Menschen, die sich anderen überlegen fühlen, als „bessere“, aufgeklärte, moderne, kosmopolitische, gebildete oder aber Vertreter einer überlegenen abendländischen Kultur, weil sie jeweils die einzig mögliche, richtige, zulässige Haltung einzunehmen glauben, verdeckt lediglich, dass sie sich selbst genug sind. Also im Grunde eine sehr verkümmerte Haltung haben. Eine ängstliche, niedergedrückte. Die sich zu einer großen aufplustert, indem sie andere zu zwingen trachtet, sich ihr zu unterwerfen.

 

Wenn alle den Kopf einziehen, sind alle gleich klein. Aber sie blicken nicht weit. Der Horizont verengt sich. Der Blick reicht kaum noch über den Hutrand hinaus. Wird immer enger. Auf sich selbst gerichtet. Ein Blick nach innen, statt nach außen. Der Fortschritt verkümmert zu einer Murmel. Das, was früher angeblich alles besser war, zu einer Erbse. Weit- und Weltsicht gehen baden. Willkommen in der linken, öko-aufrechten Einfalt. Von erzkonservativen, gar völkisch-national-chauvinistischen Abschottungshaltungen nicht zu reden.

 

Es ist ein Graus. Jeder hat heute eine Haltung. Und trägt diese vor sich her. Im Gespräch. Erst recht in den sogenannten sozialen Medien. Die ohnehin von Schlechterwissern, die sich für das Gegenteil halten, übervölkert sind. Schreihälse, die immerzu heiser sind. Schon im Kopf. Die über „Links-Versiffte“ wettern oder überall „Nazis“ wittern. Die immerzu schlechte Laune haben und sie verbreiten, aber glauben, auf dem einzig richtigen, wahren Weg zu sein.

 

Ich habe das früher zeitweise auch mal geglaubt. Aber erlaube mir heute, meinen eigenen Kopf zu benutzen. Rück- und vorsichtslos. In sozialen Fragen radikaler fast als in meiner Jugend, in anderen konservativ. Weil ich Gutes bewahren möchte. Besonders unseren schönen blauen Planeten, ohne den wir als Menschengattung zum Absterben verurteilt sind. Meine Kinder und meine Enkelin auch. Nicht zuletzt bin ich liberal. Im guten Sinne: frei im Kopf, denken, meinen.

 

Das ist das, was für mich im Kern unsere Gesellschaft, unsere Demokratie, unsere Republik ausmacht: Jeder darf seine eigene Haltung einnehmen. Ganz individuell. Aber eingebunden in die Gemeinschaft um sich und die der Mitbürger. Niemand ist eines anderen Knecht. Weder im direkten noch im weiteren Sinn. Zumindest sollte es niemand sein. 1989/90 war der große Ausbruch aus den Fesseln des ideologischen Korsetts. Auf allen Seiten. Manche haben aber offenbar bis heute (oder heute noch mehr) Haltungsprobleme damit. Weil ihnen Haltestangen fehlen. Freiheit ist halt unbequem. Man muss sich selbst aufrecht halten. Aber das gibt Kraft. Dem Körper. Den Sinnen. Dem Geist. Man muss es nur trainieren. Jeden Tag. Hilft!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.

Ludwig Greven
Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor.
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