Eingemauert

Grenzen entzweien, aber ganz ohne kommen wir auch nicht aus

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, log Walter Ulbricht 1961. Bis 1989 trennte sie die Menschen in Berlin und der Eiserne Vorhang alle Europäer in Ost und West. Donald Trump will ebenfalls eine Barriere bauen, gegen Armutseinwanderer aus dem Süden. Großbritannien will sich gleichfalls abschotten, gegen Migranten aus der EU. Nicht wenige in Deutschland wünschten sich so etwas auch.

 

Wenn Menschen und Regierungen Zäune hochziehen, geschieht das meist aus ähnlichen Motiven: Sie wollen tatsächliche oder eingebildete Gefahren abwehren. Grenzen und Mauern trennen jedoch nicht nur drinnen und draußen, grenzen Völker und Nationen voneinander ab, wie Israels Betonwall zu den Palästinensergebieten, oder teilen Städte, wie bis heute in Nordirland und die zypriotische Hauptstadt Nikosia. Sie spalten Gesellschaften auch in sich. Sie trennen die, die für Offenheit, Austausch, Reisefreiheit und freien Handel sind, von denen, die das Land am liebsten verriegeln möchten gegen Fremde und fremde Einflüsse, gegen den Verlust von Heimatgefühl oder von Jobs. In einer Welt, die auch dank der digitalen Möglichkeiten kaum noch Grenzen kennt.

 

Was jedoch längst nicht alle bejubeln – was man durchaus verstehen kann. Wie ihre Wortführer, die Trumps, Gaulands, Höckes, Orbáns, aber auch Linksnationalisten wie Lafontaine und Wagenknecht, merken sie jedoch nicht, dass sie sich damit selbst einmauern. Ihre hoffnungslosen Versuche, eine Welt auszusperren, die ihnen nicht gefällt, sind zum Scheitern verurteilt. Früher oder später.

 

Viele stehen irgendwo dazwischen. Sie wollen einerseits nicht zurück in die Zeit der National- und Obrigkeitsstaaten des 19. Jahrhunderts mit Schlagbäumen, Schutzzöllen und streng reglementiertem Aufenthaltsrecht; mit engen Grenzen für die Meinungs-, Presse- und politische Freiheit und limitierten Lebens- und Überlebenschancen. Vor denen damals übrigens Millionen in die USA, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, geflohen sind. Und Millionen bis heute fliehen.

 

Schon gar nicht möchten sie zurück in Zeiten des Nationalismus und völkischen Denkens, das Menschen anderer Herkunft, Abstammung oder Religion abwertet, im schlimmsten Fall zu vernichten trachtet wie im NS-Reich. Viele möchten andererseits aber auch nicht, dass jeder unkontrolliert ins Land kommen kann, wie es Verfechter eines Rechts auf unbeschränkte Einwanderung fordern. Sei es, weil sie sich sorgen, dass ihr Land damit überfordert wäre. Sei es, weil sie Angst vor Terror und angeblich zunehmender Kriminalität durch Ausländer haben oder weil sie Konkurrenz um billige Wohnungen und einfache Jobs durch die Migranten fürchten. Auch das sind legitime Wünsche und Ängste, auch wenn man sie nicht teilen muss.

 

Gleichzeitig wachsen die Mauern in den Köpfen – nicht nur die zwischen Ost- und Westdeutschen selbst 30 Jahre nach dem Mauerfall, zwischen Flüchtlingsfreunden und -gegnern. Sondern bei vielen Themen, auf allen Seiten, in allen Lagern.

 

Die Polarisierung des Denkens, Meinens, Redens, ja, der Realitätswahrnehmung nimmt radikale Ausmaße an. Das zeigt gerade wieder der erbitterte Streit um Abgasobergrenzen, Dieselfahrverbote und ein Tempolimit bei uns. Statt mit Argumenten, wird mit Emotionen gefochten: Die einen fürchten um ihre Gesundheit und die ihrer Kinder, die anderen um ihre Freiheit, zum Arbeitsplatz zu kommen oder zu rasen. Eine Verständigung ist kaum noch möglich – im wörtlichen und im übertragenen Sinne.

 

Die Spaltung der öffentlichen Debatte, die Abschottung der jeweiligen Lebenszirkel stellen das friedliche Miteinander infrage. Die Ängstlichen, die um das Vertraute und ihr Auskommen fürchten, und die bessergestellten Kosmopoliten, die sich um ihr Fortkommen weniger bis keine Sorgen machen müssen, haben nicht mehr viel gemein. Und wollen es auch nicht haben. Eine offene Gesellschaft lebt jedoch davon, dass sich die sozialen Gruppen und Schichten miteinander auseinandersetzen, durchaus auch streitig. Nur so können am Ende neue Gemeinsamkeiten entstehen, ohne die eine Gesellschaft irgendwann auseinanderfliegt.

 

Toleranz und Respekt für Menschen, die anders sind oder von anderem überzeugt sind, schwinden. Immer mehr grenzen sich und ihre jeweilige Gruppe rigide ab und schauen mit Verachtung auf die anderen. Ein schrecklicher Nährboden für Hass und Gewalt und für Volksverführer, die beides schüren.

 

Gerade diejenigen, die für Grenzenlosigkeit sind, sollten jedoch nicht die ausgrenzen und sich über sie erheben, die sich davor fürchten. Denn Grenzen an sich sind nichts Böses. Jedes Kind, jeder Jugendliche lernt, sich abzugrenzen, um seine eigene Identität zu entwickeln. Wer das nicht schafft, leidet später unter Umständen an einem Borderline- oder Helfersyndrom, an Paranoia oder einer narzisstischen Störung. Eltern und Lehrer sollen, ja müssen auch deshalb Grenzen setzen.

 

Gemeinschaften geht es nicht anders. Seit es Menschen gibt, haben sie sich, ihre Sippe, ihr Eigentum, ihre Herde, ihre Scholle vor anderen, Fremden gesichert. Jede Kultur, jede Glaubensgemeinschaft definiert sich auch dadurch, dass und wie sie sich von anderen unterscheidet. Und die wenigsten bestreiten noch, dass wir unseren Lebenswandel und das Wirtschaftswachstum begrenzen müssen, um Gesundheit, Umwelt, das Klima und unser aller Überleben zu sichern.

 

Auf der anderen Seite hing gesellschaftlicher Fortschritt stets davon ab, dass Menschen bereit waren, Grenzen zu überschreiten. Grenzen des Denkens und Handelns und auch faktische Grenzen – ob in der Wissenschaft, der Technik, im Sport, in der Gesellschaft oder der Politik.

 

Deshalb: Grenzkontrollen dürfen sein, wo sie benötigt werden, um tatsächliche Gefahren abzuwehren. Aber sie dürfen keine unüberwindbaren Hürden sein: keine Mauern des Mitgefühls und der Mitmenschlichkeit. Auch der praktischen Vernunft. Denn, schrieb Friedrich Schiller: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“

 

Nationalismus, Isolationismus, Unilateralismus und Fremdenhass haben immer nur ins Elend, ins Chaos, oft in Kriege geführt. Selbst wo Grenzen und Zäune für eine Weile nicht zu verhindern sind, sollten sie daher so errichtet werden, dass sie durchlässig bleiben für Menschen und Gedanken – auch im Internet, siehe China oder Iran. Mit dem Ziel, sie irgendwann wieder einzureißen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2019.

Ludwig Greven
Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor.
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