An gute Zeiten anknüpfen

Ein historischer Überblick der deutsch-türkischen Beziehungen

Wer hingegen eine Zeit in den deutsch-türkischen Beziehungen sucht, in der Menschenwürde, Schutz vor politischer Verfolgung und Freizügigkeit hoch auf der Agenda standen, wird ausgerechnet Mitte des 19. Jahrhunderts fündig, im sogenannten Reformzeitalter 1839 bis 1876. Sultan Abdülmecid und nach ihm sein Bruder Abdülaziz und vor allem die zu dieser Zeit einflussreichen Staatsmänner versuchten, ein modernes, aufgeklärtes Osmanisches Reich aufzubauen, oft mit unzureichenden Mitteln, naiven Plänen, andererseits mit grober Verschwendung, wenn es um die Pracht der neuen Schlösser ging. Das sogenannte Tanzimat-Zeitalter scheiterte, aber die humanistischen und oft romantischen Anstrengungen seiner Protagonisten beeindrucken.

 

Da wäre zunächst eine humane Flüchtlingspolitik. Im frühen 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Wirtschaftsflüchtlinge aus den deutschen Ländern. Überbevölkerung, die Auflösung der Zünfte und der traditionellen Lehnsherrschaft unter ungünstigen Bedingungen für die Betroffenen führten zur Verarmung weiter Teile der Gesellschaft. Arbeitslose Handwerkergesellen zogen zu Fuß von Stadt zu Stadt auf der Suche nach Arbeit und erreichten schließlich Istanbul, oft krank und mittellos. Bereits 1835 erließ Preußen eine Deklaration, die vor der Emigration ins Osmanische Reich warnte, da diese häufig zu noch größerem Elend führen würde.

 

In Istanbul reagierten vor allem die bereits vor Ort etablierten „Europäer“ auf die Misere der eingereisten Handwerker, die durch die Reisestrapazen, mangelhafte Ernährung und Krankheiten neben sozialer oft auch medizinischer Aufmerksamkeit bedurften. Auf Initiative des Uhrmachers Jacob Anderlich aus Rijeka / Fiume (damals Österreich) entstand 1838 die Associazione Commerciale Artigiana di Pietà, die sich zum Ziel setzte, solchen in Not geratenen Fremden ohne Ansehen der Konfession oder Staatszugehörigkeit Hilfe zu gewähren. Mit Unterstützung von Sultan Abdülmecid, Frankreichs, Österreichs, Bayerns und des Erzbistum Kölns wurde zu diesem Zweck ein Haus in Istanbul-Harbiye gegründet, das bis heute fortbesteht. Später entstanden auch ein Verband der deutschen Handwerker in Istanbul (Teutonia) und zwei Krankenhäuser, die sich insbesondere um die verarmten Deutschen kümmerten. Auch im Punkte Niederlassungsrecht zeigte sich Sultan Abdülmecid für seine Zeit progressiv und gastfreundlich. Als 1857 die preußische Gesandtschaft im Namen „mehrerer hundert“ Familien anfragte, ob diese sich auf osmanischen Boden niederlassen und landwirtschaftliche Betriebe aufbauen könnten, wies der Sultan sofort die Behörden in sieben landwirtschaftlich ertragreichen Provinzen an, geeignete Gebiete auszuweisen und stellte lediglich die Bedingung, dass die Siedler die osmanische Staatsangehörigkeit annehmen sollten.

 

Auch gegenüber politisch Verfolgten und Bürgerkriegsflüchtlingen verhielt sich der osmanische Staat um die Mitte des 19. Jahrhunderts korrekt: Als 1848 Menschen quer durch Europa für ihre Freiheiten und soziale Rechte auf die Barrikaden gingen, anschließend aber das verhasste „System Metternich“, benannt nach dem aus dem Rheinland stammenden österreichischen Kanzler, die Aufstände niederschlug, retteten sich viele Angehörige der Aufständischenarmee ins Osmanische Reich. Trotz erheblichen politischen Drucks durch Österreich und Russland lieferte Abdülmecid die deutsch-, ungarisch-, italienisch- und polnischsprachigen Revolutionäre nicht aus. Manche zogen weiter, insbesondere nach Süditalien, andere gründeten Kaffeehäuser oder Weinschänken in Istanbul und noch andere traten in den osmanischen Staatsdienst ein.

 

Weitere Zeichen der Offenheit des osmanischen politischen Systems konnte man in den Städten sehen. Bereits ab 1856 gab es beispielsweise ein beschränktes kommunales Wahlrecht für Ausländer in Izmir. Ab 1879 gab es sogar einen französischen Bürgermeister in Istanbuls prestigeträchtigem Stadtteil Beyoğlu, Edouard Blacque.

 

Deswegen fühlten sich freiheitsliebende Menschen aus den deutschen Ländern im Osmanischen Reich recht wohl – wenn sie die Augen gegenüber den Missständen im Lande, von denen die dortigen Untertanen betroffen waren, verschlossen. So schrieb 1865 Carl Humann aus Istanbul: „Hier in der Türkei lebt man in der That viel freier als in Preußen oder irgendeinem andern deutschen Vaterlande. Für den Europäer wenigstens existirt Preß-, Versammlungs- und Redefreiheit in vollem Maaße. Steuern bezahlt er verhältnismäßig sehr wenige (…). Mit Pässen und anderer lästiger Aufsicht wird man nicht gequält. Jeder kann sein Geld verdienen, wie er will, ohne daß der Staat sich patriarchalisch ins Mittel legt, um den einen oder anderen vor Concurrenz zu beschützen. (…) Drum lebe die Türkei! Sie ist jedenfalls besser als ihr Ruf.“

 

Allerdings setzte sich in den folgenden Jahrzehnten eine andere Türkei und auch ein anderes Deutschland durch, als sich die deutschen Demokraten und die osmanischen Reformanhänger erträumten. Abgesehen von einigen noblen Gesten und guten Absichten waren die Reformen zu realitätsfremd, als dass sie tatsächlich Ergebnisse produziert hätten, die die sehr heterogene Bevölkerung auf eine gemeinsame Zukunft hätte einschwören können. Es folgte das Regime Abdülhamids, in dem das Misstrauen gegenüber den Untertanen auf die Spitze getrieben wurde. Die deutschen Demokraten hingegen vergaßen größtenteils ihre Ideale, als der preußische Kanzler Otto von Bismarck ihnen ein Reich „aus Blut und Eisen“ bot.

 

Wenn sich also heute wegen der Verhaftungen und Massenentlassungen kritischer Menschen in ihrem Herkunftsland in Deutschland Exilgruppen von türkischen Journalisten und Akademikern bilden, Menschen mit transnationalen Lebenswelten den Schranken der Nationalstaaten zuliebe eine ausufernde Bürokratie bedienen müssen und Millionen Menschen im euromediterranen Raum sich auf der Flucht vor Krieg, Diktatur und unzumutbaren Lebensumständen sind, sollte man sich also an die humanistischen Gesten Abdülmecids zurückerinnern und für alle Betroffene die best möglichen Konditionen erwirken.

Malte Fuhrmann
Malte Fuhrmann ist DAAD-Fachlektor am Europainstitut der Istanbul Bilgi Universität und Almuni des Leibniz-Zentrums Moderner Orient
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