Malte Fuhrmann - 29. Juni 2017 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kultur in der Türkei

An gute Zeiten anknüpfen


Ein historischer Überblick der deutsch-türkischen Beziehungen

Um die deutsch-türkischen Beziehungen steht es schlecht. Die türkische Regierung hält sich unter anderem dadurch an der Macht, dass sie periodisch Krisen mit anderen Ländern provoziert oder am Leben hält, unter denen sich Israel, Russland und in letzter Zeit vor allem Deutschland als gute Feindbilder für die rechte öffentliche Meinung anbieten. Umgekehrt hat die deutsche Regierung seit Langem kein weiteres Interesse an der Türkei, als sie als Vorburg zur Festung Europa zu benutzen. Den Preis zahlen die Menschen in beiden Ländern. So verweigert die Bundesrepublik seit geraumer Zeit ihre Zustimmung zur Schengen-Visumsfreiheit für türkische Staatsbürger, wodurch Millionen von Menschen zu zeitraubenden und kostspieligen Ämtergängen gezwungen werden, um ihre Familien-, Freundschafts- und Geschäftsbeziehungen aufrechtzuerhalten. Die dank des von der Regierung Merkel mit ausgehandelten Grenzabkommens in der Türkei verbleibenden Flüchtlinge unter anderem aus Syrien, Afghanistan und Eritrea sind hingegen größtenteils zu menschenunwürdigen Unterkünften und Arbeitsverhältnissen verurteilt. Umgekehrt hält der türkische Staat es für nötig, wegen angeblicher Terrorunterstützung durch ihre Schriften die deutsche Übersetzerin Meşale Tolu Çorlu und den Doppeltstaatsbürger und Journalisten Deniz Yücel in Untersuchungshaft zu halten sowie dem deutschen Politikwissenschaftler Sharo Garip die Ausreise zu verbieten.

 

Man möchte sich angesichts der Situation gar nicht erst aufhalten mit Auswegen aus der verfahrenen Diplomatie, sondern am besten gleich von vorne anfangen. Gab es nicht einen Zeitpunkt, zu dem die Beziehungen besser waren und den man sich für einen Neustart zum Vorbild nehmen könnte? Es gab mehrere Zeitpunkte besserer Beziehungen, aber das Problem ist, dass bei näherem Hinsehen diese kaum als Vorbild dienen können, da sie nicht für eine gegenseitige Achtung von Menschenrechten, Freizügigkeit und ein würdevolles Leben für Flüchtlinge stehen. Was ist mit der Regierungszeit Gerhard Schröders, der als Türkenfreund galt? Dessen guter Ruf im rechten Lager der Türkei stammt lediglich daher, dass er sich gegenüber der türkischen Innenpolitik und damit auch den bereits in der Frühphase der Regierung Erdoğan auftretenden Menschenrechtsverstößen indifferent zeigte. Für die Visumsfreiheit oder -erleichterungen tat er nie etwas. Helmut Kohl hingegen handelte mit Turgut Özal aus, dass die eigentlich schon für 1986 zugesagte Freizügigkeit nicht durchgesetzt wurde und die deutsche Regierung stattdessen eine großzügige Spende an Panzern an die türkische Armee leistete.

 

Rüstungshilfe war stets ein Bestandteil der türkisch-deutschen Freundschaft. Insbesondere im 2. Weltkrieg war das Deutsche Reich von Einfuhren von Chromerz aus der Türkischen Republik für die Waffenproduktion abhängig. Noch in der Nacht bevor die neutrale Türkei 1944 auf Druck der Alliierten diese Lieferungen schließlich einstellte, wurden noch einmal 218 Waggons auf den Weg gebracht.

 

Was ist hingegen mit 1933, als politisch und rassisch Verfolgte, wie Ernst Reuter, Erich Auerbach oder Bruno Taut, die in Deutschland ihre Stellen an den Universitäten verloren hatten, im türkischen Wissenschafts- und Staatsbetrieb Anstellung fanden? Auch hier muss man etwas Wasser in den Wein schütten. So wichtig die Aufnahme in der Türkei für die unmittelbar Betroffenen war, so wenig stellte sie eine antifaschistische Maßnahme dar. Die frühe Türkische Republik brauchte schlichtweg Personal für den Aufbau eines neuen akademischen Systems, insbesondere, da man unmittelbar zur selben Zeit die erste Universität des Landes, die Darülfünun, geschlossen hatte, da sich ihre Wissenschaftler geweigert hatten, die wissenschaftlich nicht haltbaren Theorien zur historischen Verbreitung der türkischen Sprache und Rasse zu propagieren, die zu der Zeit Staatsdoktrin waren. Die ankommenden deutschen Wissenschaftler sollten also den kürzlich gesäuberten akademischen Apparat neu aufbauen und dienten diesem Zweck genauso gut wie deutsche regimekonforme Wissenschaftler.

 

Wie sah es hingegen zu Zeiten Wilhelms II. aus, der Abdülhamid II. seinen persönlichen Freund nannte? Auch hier möchte man lieber nicht so genau hinschauen. Der osmanische Sultan bereitete dem naiven deutschen Kaiser einen prächtigen Empfang bei seinem Staatsbesuch 1898, der Wilhelm nachdrücklich beeindruckte. Die deutsche Diplomatie und Wirtschaft nutzte diese Lage für günstige Geschäfte und stützten Abdülhamid trotz seiner internationalen Isolation nach den umfangreichen Massakern an Armeniern im Lande.

Wer hingegen eine Zeit in den deutsch-türkischen Beziehungen sucht, in der Menschenwürde, Schutz vor politischer Verfolgung und Freizügigkeit hoch auf der Agenda standen, wird ausgerechnet Mitte des 19. Jahrhunderts fündig, im sogenannten Reformzeitalter 1839 bis 1876. Sultan Abdülmecid und nach ihm sein Bruder Abdülaziz und vor allem die zu dieser Zeit einflussreichen Staatsmänner versuchten, ein modernes, aufgeklärtes Osmanisches Reich aufzubauen, oft mit unzureichenden Mitteln, naiven Plänen, andererseits mit grober Verschwendung, wenn es um die Pracht der neuen Schlösser ging. Das sogenannte Tanzimat-Zeitalter scheiterte, aber die humanistischen und oft romantischen Anstrengungen seiner Protagonisten beeindrucken.

 

Da wäre zunächst eine humane Flüchtlingspolitik. Im frühen 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Wirtschaftsflüchtlinge aus den deutschen Ländern. Überbevölkerung, die Auflösung der Zünfte und der traditionellen Lehnsherrschaft unter ungünstigen Bedingungen für die Betroffenen führten zur Verarmung weiter Teile der Gesellschaft. Arbeitslose Handwerkergesellen zogen zu Fuß von Stadt zu Stadt auf der Suche nach Arbeit und erreichten schließlich Istanbul, oft krank und mittellos. Bereits 1835 erließ Preußen eine Deklaration, die vor der Emigration ins Osmanische Reich warnte, da diese häufig zu noch größerem Elend führen würde.

 

In Istanbul reagierten vor allem die bereits vor Ort etablierten „Europäer“ auf die Misere der eingereisten Handwerker, die durch die Reisestrapazen, mangelhafte Ernährung und Krankheiten neben sozialer oft auch medizinischer Aufmerksamkeit bedurften. Auf Initiative des Uhrmachers Jacob Anderlich aus Rijeka / Fiume (damals Österreich) entstand 1838 die Associazione Commerciale Artigiana di Pietà, die sich zum Ziel setzte, solchen in Not geratenen Fremden ohne Ansehen der Konfession oder Staatszugehörigkeit Hilfe zu gewähren. Mit Unterstützung von Sultan Abdülmecid, Frankreichs, Österreichs, Bayerns und des Erzbistum Kölns wurde zu diesem Zweck ein Haus in Istanbul-Harbiye gegründet, das bis heute fortbesteht. Später entstanden auch ein Verband der deutschen Handwerker in Istanbul (Teutonia) und zwei Krankenhäuser, die sich insbesondere um die verarmten Deutschen kümmerten. Auch im Punkte Niederlassungsrecht zeigte sich Sultan Abdülmecid für seine Zeit progressiv und gastfreundlich. Als 1857 die preußische Gesandtschaft im Namen „mehrerer hundert“ Familien anfragte, ob diese sich auf osmanischen Boden niederlassen und landwirtschaftliche Betriebe aufbauen könnten, wies der Sultan sofort die Behörden in sieben landwirtschaftlich ertragreichen Provinzen an, geeignete Gebiete auszuweisen und stellte lediglich die Bedingung, dass die Siedler die osmanische Staatsangehörigkeit annehmen sollten.

 

Auch gegenüber politisch Verfolgten und Bürgerkriegsflüchtlingen verhielt sich der osmanische Staat um die Mitte des 19. Jahrhunderts korrekt: Als 1848 Menschen quer durch Europa für ihre Freiheiten und soziale Rechte auf die Barrikaden gingen, anschließend aber das verhasste „System Metternich“, benannt nach dem aus dem Rheinland stammenden österreichischen Kanzler, die Aufstände niederschlug, retteten sich viele Angehörige der Aufständischenarmee ins Osmanische Reich. Trotz erheblichen politischen Drucks durch Österreich und Russland lieferte Abdülmecid die deutsch-, ungarisch-, italienisch- und polnischsprachigen Revolutionäre nicht aus. Manche zogen weiter, insbesondere nach Süditalien, andere gründeten Kaffeehäuser oder Weinschänken in Istanbul und noch andere traten in den osmanischen Staatsdienst ein.

 

Weitere Zeichen der Offenheit des osmanischen politischen Systems konnte man in den Städten sehen. Bereits ab 1856 gab es beispielsweise ein beschränktes kommunales Wahlrecht für Ausländer in Izmir. Ab 1879 gab es sogar einen französischen Bürgermeister in Istanbuls prestigeträchtigem Stadtteil Beyoğlu, Edouard Blacque.

 

Deswegen fühlten sich freiheitsliebende Menschen aus den deutschen Ländern im Osmanischen Reich recht wohl – wenn sie die Augen gegenüber den Missständen im Lande, von denen die dortigen Untertanen betroffen waren, verschlossen. So schrieb 1865 Carl Humann aus Istanbul: „Hier in der Türkei lebt man in der That viel freier als in Preußen oder irgendeinem andern deutschen Vaterlande. Für den Europäer wenigstens existirt Preß-, Versammlungs- und Redefreiheit in vollem Maaße. Steuern bezahlt er verhältnismäßig sehr wenige (…). Mit Pässen und anderer lästiger Aufsicht wird man nicht gequält. Jeder kann sein Geld verdienen, wie er will, ohne daß der Staat sich patriarchalisch ins Mittel legt, um den einen oder anderen vor Concurrenz zu beschützen. (…) Drum lebe die Türkei! Sie ist jedenfalls besser als ihr Ruf.“

 

Allerdings setzte sich in den folgenden Jahrzehnten eine andere Türkei und auch ein anderes Deutschland durch, als sich die deutschen Demokraten und die osmanischen Reformanhänger erträumten. Abgesehen von einigen noblen Gesten und guten Absichten waren die Reformen zu realitätsfremd, als dass sie tatsächlich Ergebnisse produziert hätten, die die sehr heterogene Bevölkerung auf eine gemeinsame Zukunft hätte einschwören können. Es folgte das Regime Abdülhamids, in dem das Misstrauen gegenüber den Untertanen auf die Spitze getrieben wurde. Die deutschen Demokraten hingegen vergaßen größtenteils ihre Ideale, als der preußische Kanzler Otto von Bismarck ihnen ein Reich „aus Blut und Eisen“ bot.

 

Wenn sich also heute wegen der Verhaftungen und Massenentlassungen kritischer Menschen in ihrem Herkunftsland in Deutschland Exilgruppen von türkischen Journalisten und Akademikern bilden, Menschen mit transnationalen Lebenswelten den Schranken der Nationalstaaten zuliebe eine ausufernde Bürokratie bedienen müssen und Millionen Menschen im euromediterranen Raum sich auf der Flucht vor Krieg, Diktatur und unzumutbaren Lebensumständen sind, sollte man sich also an die humanistischen Gesten Abdülmecids zurückerinnern und für alle Betroffene die best möglichen Konditionen erwirken.


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