Das Alte mit neuen Methoden bewahren

Die strategischen Herausforderungen des Bundesarchivs

 

Die dritte wesentliche Kernaufgabe ist die Bereitstellung. Dies hat grundrechtlichen Charakter. Archivbenutzung ist schon lange nicht mehr auf den Besuch von Lesesälen reduziert, sondern geschieht mehr und mehr über das Internet. Dabei zielen die Erwartungen der Nutzerinnen und Nutzer nicht nur auf die fast schon selbstverständliche digitale Bereitstellung, sondern auch auf einen qualitativ höheren Recherchekomfort, der sich mit den Alltagserfahrungen der Nutzerinnen und Nutzer in anderen Lebensbereichen messen lassen muss. Großes strategisches Ziel des Bundesarchivs für diese Dekade ist die digitale und – soweit rechtlich möglich – Online-Bereitstellung aller relevanten Quellen aus der Zeit des Dritten Reiches, um einer breiten Öffentlichkeit einen möglichst voraussetzungslosen Zugang zu diesen Quellen zu verschaffen. Für die neueste Zeitgeschichte ist eine solche Bereitstellung auf lange Sicht leider unmöglich – vor allem, weil das Urheberrecht die Erfordernisse und Besonderheit der Archive konsequent ignoriert.

 

Das führt von den Kernaufgaben zu den Rahmenbedingungen. Um diesen Aufgaben vollständig gerecht zu werden, ist eine permanente Weiterentwicklung des rechtlichen Rahmens erforderlich. Nicht möglich ist zurzeit die Sicherung von Registerdaten, die Spezialgesetzen unterliegen, wie z. B. das Ausländerzentralregister. Hier werden jährlich große Mengen an Daten gelöscht und sind damit unwiederbringlich für künftige Generationen verloren. Während in den meisten Landesarchivgesetzen das Archivgesetz die Löschungsvorschriften der Spezialgesetze überschreibt, sollte im Bund der für die Bürgerinnen und Bürger deutlich transparentere Weg beschritten werden: die Aufnahme einer Erlaubnis zur dauerhaften Aufbewahrung von Daten in die Spezialgesetze. Diese Gesetzesänderungen sind aber bisher nicht erfolgt. Das führt dazu, dass z. B. die Daten derjenigen Menschen, die in den letzten Jahren neu in unser Land gekommen sind, nicht gesichert werden dürfen und so ihren Nachkommen in 100 Jahren die Frage nach Herkunft und Abstammung nicht wird beantwortet werden können. Ein angemessener Ausgleich zwischen Datenschutz und Recht auf Erinnern steht hier noch aus.

 

Und nicht zuletzt braucht es natürlich auch Menschen, die die Arbeit im Archiv machen. In Fachkreisen wird seit Langem über das Berufsbild „Archivar/in“ diskutiert, der oder die möglichst neben ausgewiesener Expertise im Bereich mittelalterlicher Urkunden in lateinischer, französischer und deutscher Sprache XML, SQL und Java beherrschen sowie kompetente Stellungnahmen zur deutschen Umsetzung der EU-Richtlinie zum Urheberrecht oder zur Informationsweiterverwendung abgeben können sollte, während er oder sie die diversen Social-Media-Kanäle des Archivs kreativ und möglichst rund um die Uhr bespielt. Diesen Herausforderungen lässt sich aber nicht mit Berufsbilddiskussionen begegnen, sondern nur mit einer Neuausrichtung des gesamten Berufsfeldes „Archiv“, das mehr und mehr echte Spezialisten in den Bereichen Informationstechnologie, Recht und Öffentlichkeitsarbeit benötigt, die aber unter den Bedingungen des öffentlichen Dienstes nicht ohne Weiteres zu gewinnen sind. Die Berufsbilddiskussion blendet zudem aus, dass Archive nicht nur ein Arbeitsplatz für Hochschulabsolventinnen und -absolventen sind, sondern dass die Mehrzahl der Beschäftigten in verschiedensten Ausbildungsberufen arbeitet. Hier besteht die Herausforderung, dass auch Qualifikationen benötigt werden, die „am Markt“ nicht mehr ausgebildet werden, wie z. B. im Bereich der analogen Filmbearbeitung, die im Bundesarchiv als Voraussetzung für die Digitalisierung noch viele Jahre zwingend benötigt werden.

 

So pendeln die Aufgaben des Bundesarchivs zwischen Tradition und Innovation. Die strategische Herausforderung bleibt, das Alte mit neuen Methoden zu bewahren und die Gesellschaft von der Relevanz dieser Arbeit so zu überzeugen, dass dafür ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.

Andreas Hänger
Andrea Hänger ist Vizepräsidentin des Bundesarchivs.
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