Das Alte mit neuen Methoden bewahren

Die strategischen Herausforderungen des Bundesarchivs

Als nationales Zentralarchiv der Bundesrepublik ist das Bundesarchiv zuständig für die Übernahme, Erhaltung und Bereitstellung der Unterlagen der Bundesverwaltung und ihrer Vorläuferinstitutionen. Dazu gehört selbstverständlich auch die Überlieferung der zentralen zivilen und militärischen Stellen der DDR. Ergänzt wird die staatliche Überlieferung durch die Unterlagen von Verbänden, Vereinen und Personen von überregionaler Bedeutung, sofern nicht andere Archive diese Aufgabe übernehmen. Zurzeit verwahrt das Bundesarchiv unter anderem über 400 Kilometer Akten, 12 Millionen Fotos und 150.000 Filmwerke ganz überwiegend aus dem Bereich der Zeitgeschichte.

 

Betrachtet man die wechselvolle Geschichte von Reichs- und Bundesarchiv, wird schnell klar, wie sehr auch eine vermeintlich eher im „Windschatten der Geschichte“ stehende Institution wie ein Archiv gesellschaftlichen Veränderungsprozessen unterworfen ist. So betrifft aktuell auch der tief greifende digitale Wandel die Aufgaben des Archivs in ihrem Kern. Auch wenn zurzeit die Übernahme der Stasi-Unterlagen das Thema ist, mit dem das Bundesarchiv am stärksten in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, ist sie doch nicht die größte Herausforderung, die es zu bewältigen gilt.

 

Eine zentrale Aufgabe des Archivs ist die Übernahme der Unterlagen, die in der laufenden Verwaltung nicht mehr für die Aufgabenwahrnehmung benötigt werden und denen bleibender Wert zukommt. Beide Kriterien, das Abgeschlossensein und der bleibende Wert, sind konstitutiv für die Entstehung von Archivgut. Doch in der digitalen Welt ist dieser Zustand des Abgeschlossenseins nicht mehr so klar zu definieren wie bei einem Aktenordner, bei dem schon die rein materielle Begrenzung der Ringheftung oder des Heftstreifens das Zur-Seite-Legen mit sich bringt. In einer E-Akte gibt es kein so offensichtliches Platzproblem, und in einer Datenbank verbleiben auch solche Datensätze einfach im System, die nicht mehr aktualisiert werden. Die Übergänge zwischen Fachverfahren und E-Akten-Systemen sind zudem fließend, und nicht alle Informationen befinden sich stabil an einem Ort. Es kann kaum noch eindeutig definiert werden, was genau die E-Akte umfasst, die dauerhaft zu sichern ist, weil zum Verständnis des Entscheidungsprozesses weitere Systeminformationen benötigt werden. Im Dezember 2019 ging nach fast zehnjähriger Vorarbeit das Digitale Zwischenarchiv des Bundes in den Produktivbetrieb. Das Bundesarchiv verantwortet hier ein zentrales Projekt der IT-Konsolidierung der Bundesverwaltung und hat damit mehr als nur einen Meilenstein erreicht, seine Arbeit auch in der digitalen Welt fortzuführen. Doch kaum ist dieser Schritt getan, stehen die nächsten Herausforderungen an. Komplexe moderne Fachverfahren bringen neue Fragen mit sich, nämlich die einer nicht mehr rekonstruierbaren Entscheidungsgrundlage in den Fällen, in denen externe Informationsquellen „on the fly“ in den Entscheidungsprozess einbezogen werden, ohne in den Entscheidungsdokumenten selbst ihren Niederschlag zu finden. Gleichzeitig müssen bis mindestens Ende der 2030er Jahre parallel die Kapazitäten und das Know-how für die Übernahme von Papierakten bereitgehalten werden.

 

Eine weitere große Herausforderung ist der dauerhafte Erhalt des Archivguts – und das möglichst im Original. Ausnahmslos alle Trägermaterialien bestehen aus organischen Grundstoffen, die naturgemäß einem mehr oder weniger schnellen Verfall ausgesetzt sind, der im besten Fall aufgehalten, aber niemals ganz zum Stillstand gebracht werden kann. Bei Filmmaterial oder Tonbändern ist ein zügiger Wechsel des Trägermaterials unumgänglich, um die Informationen dauerhaft erhalten zu können. Das gilt aber auch für Papier. Das Bundesarchiv wird nicht über die Ressourcen verfügen, seine über 400 Kilometer Papierakten Blatt für Blatt mit aufwändigen Restaurierungsmaßnahmen zu erhalten. Für eine große Menge müssen einfache konservatorische Maßnahmen wie eine archivgerechte Lagerung – die mit Abstand wirtschaftlichste und effektivste Methode der Bestandserhaltung – ausreichen, um das Papier möglichst lange zu erhalten. Nach und nach sind dann über die Digitalisierung zumindest die Informationen über die Zeit zu retten, wobei heute nicht absehbar ist, ob in jedem Fall die Digitalisierung vor dem Zerfall realisiert werden kann. Damit ist die wichtigste Herausforderung für das Bundesarchiv die Schaffung von fachlich geeigneten Magazinkapazitäten – und das nicht nur für die Stasi-Unterlagen, sondern auch für die Unterlagen der 2019 in das Bundesarchiv übernommenen ehemaligen Wehrmachtauskunftstelle und die mehr als 75 Kilometer Akten, die nach heutigem Wissen noch in den Bundesbehörden verwahrt werden. Vor dieser Herausforderung verblasst die ebenfalls gewaltige Aufgabe, jährlich einen Zuwachs an Datenmenge von mehr als fünf Petabyte bewältigen zu müssen, die vor allem aus der Digitalisierung der Filme bzw. der Abgabe bereits digital produzierter Filme herrühren.

Andreas Hänger
Andrea Hänger ist Vizepräsidentin des Bundesarchivs.
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