Andreas Hänger - 27. Februar 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Archive

Das Alte mit neuen Methoden bewahren


Die strategischen Herausforderungen des Bundesarchivs

Als nationales Zentralarchiv der Bundesrepublik ist das Bundesarchiv zuständig für die Übernahme, Erhaltung und Bereitstellung der Unterlagen der Bundesverwaltung und ihrer Vorläuferinstitutionen. Dazu gehört selbstverständlich auch die Überlieferung der zentralen zivilen und militärischen Stellen der DDR. Ergänzt wird die staatliche Überlieferung durch die Unterlagen von Verbänden, Vereinen und Personen von überregionaler Bedeutung, sofern nicht andere Archive diese Aufgabe übernehmen. Zurzeit verwahrt das Bundesarchiv unter anderem über 400 Kilometer Akten, 12 Millionen Fotos und 150.000 Filmwerke ganz überwiegend aus dem Bereich der Zeitgeschichte.

 

Betrachtet man die wechselvolle Geschichte von Reichs- und Bundesarchiv, wird schnell klar, wie sehr auch eine vermeintlich eher im „Windschatten der Geschichte“ stehende Institution wie ein Archiv gesellschaftlichen Veränderungsprozessen unterworfen ist. So betrifft aktuell auch der tief greifende digitale Wandel die Aufgaben des Archivs in ihrem Kern. Auch wenn zurzeit die Übernahme der Stasi-Unterlagen das Thema ist, mit dem das Bundesarchiv am stärksten in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, ist sie doch nicht die größte Herausforderung, die es zu bewältigen gilt.

 

Eine zentrale Aufgabe des Archivs ist die Übernahme der Unterlagen, die in der laufenden Verwaltung nicht mehr für die Aufgabenwahrnehmung benötigt werden und denen bleibender Wert zukommt. Beide Kriterien, das Abgeschlossensein und der bleibende Wert, sind konstitutiv für die Entstehung von Archivgut. Doch in der digitalen Welt ist dieser Zustand des Abgeschlossenseins nicht mehr so klar zu definieren wie bei einem Aktenordner, bei dem schon die rein materielle Begrenzung der Ringheftung oder des Heftstreifens das Zur-Seite-Legen mit sich bringt. In einer E-Akte gibt es kein so offensichtliches Platzproblem, und in einer Datenbank verbleiben auch solche Datensätze einfach im System, die nicht mehr aktualisiert werden. Die Übergänge zwischen Fachverfahren und E-Akten-Systemen sind zudem fließend, und nicht alle Informationen befinden sich stabil an einem Ort. Es kann kaum noch eindeutig definiert werden, was genau die E-Akte umfasst, die dauerhaft zu sichern ist, weil zum Verständnis des Entscheidungsprozesses weitere Systeminformationen benötigt werden. Im Dezember 2019 ging nach fast zehnjähriger Vorarbeit das Digitale Zwischenarchiv des Bundes in den Produktivbetrieb. Das Bundesarchiv verantwortet hier ein zentrales Projekt der IT-Konsolidierung der Bundesverwaltung und hat damit mehr als nur einen Meilenstein erreicht, seine Arbeit auch in der digitalen Welt fortzuführen. Doch kaum ist dieser Schritt getan, stehen die nächsten Herausforderungen an. Komplexe moderne Fachverfahren bringen neue Fragen mit sich, nämlich die einer nicht mehr rekonstruierbaren Entscheidungsgrundlage in den Fällen, in denen externe Informationsquellen „on the fly“ in den Entscheidungsprozess einbezogen werden, ohne in den Entscheidungsdokumenten selbst ihren Niederschlag zu finden. Gleichzeitig müssen bis mindestens Ende der 2030er Jahre parallel die Kapazitäten und das Know-how für die Übernahme von Papierakten bereitgehalten werden.

 

Eine weitere große Herausforderung ist der dauerhafte Erhalt des Archivguts – und das möglichst im Original. Ausnahmslos alle Trägermaterialien bestehen aus organischen Grundstoffen, die naturgemäß einem mehr oder weniger schnellen Verfall ausgesetzt sind, der im besten Fall aufgehalten, aber niemals ganz zum Stillstand gebracht werden kann. Bei Filmmaterial oder Tonbändern ist ein zügiger Wechsel des Trägermaterials unumgänglich, um die Informationen dauerhaft erhalten zu können. Das gilt aber auch für Papier. Das Bundesarchiv wird nicht über die Ressourcen verfügen, seine über 400 Kilometer Papierakten Blatt für Blatt mit aufwändigen Restaurierungsmaßnahmen zu erhalten. Für eine große Menge müssen einfache konservatorische Maßnahmen wie eine archivgerechte Lagerung – die mit Abstand wirtschaftlichste und effektivste Methode der Bestandserhaltung – ausreichen, um das Papier möglichst lange zu erhalten. Nach und nach sind dann über die Digitalisierung zumindest die Informationen über die Zeit zu retten, wobei heute nicht absehbar ist, ob in jedem Fall die Digitalisierung vor dem Zerfall realisiert werden kann. Damit ist die wichtigste Herausforderung für das Bundesarchiv die Schaffung von fachlich geeigneten Magazinkapazitäten – und das nicht nur für die Stasi-Unterlagen, sondern auch für die Unterlagen der 2019 in das Bundesarchiv übernommenen ehemaligen Wehrmachtauskunftstelle und die mehr als 75 Kilometer Akten, die nach heutigem Wissen noch in den Bundesbehörden verwahrt werden. Vor dieser Herausforderung verblasst die ebenfalls gewaltige Aufgabe, jährlich einen Zuwachs an Datenmenge von mehr als fünf Petabyte bewältigen zu müssen, die vor allem aus der Digitalisierung der Filme bzw. der Abgabe bereits digital produzierter Filme herrühren.

 

Die dritte wesentliche Kernaufgabe ist die Bereitstellung. Dies hat grundrechtlichen Charakter. Archivbenutzung ist schon lange nicht mehr auf den Besuch von Lesesälen reduziert, sondern geschieht mehr und mehr über das Internet. Dabei zielen die Erwartungen der Nutzerinnen und Nutzer nicht nur auf die fast schon selbstverständliche digitale Bereitstellung, sondern auch auf einen qualitativ höheren Recherchekomfort, der sich mit den Alltagserfahrungen der Nutzerinnen und Nutzer in anderen Lebensbereichen messen lassen muss. Großes strategisches Ziel des Bundesarchivs für diese Dekade ist die digitale und – soweit rechtlich möglich – Online-Bereitstellung aller relevanten Quellen aus der Zeit des Dritten Reiches, um einer breiten Öffentlichkeit einen möglichst voraussetzungslosen Zugang zu diesen Quellen zu verschaffen. Für die neueste Zeitgeschichte ist eine solche Bereitstellung auf lange Sicht leider unmöglich – vor allem, weil das Urheberrecht die Erfordernisse und Besonderheit der Archive konsequent ignoriert.

 

Das führt von den Kernaufgaben zu den Rahmenbedingungen. Um diesen Aufgaben vollständig gerecht zu werden, ist eine permanente Weiterentwicklung des rechtlichen Rahmens erforderlich. Nicht möglich ist zurzeit die Sicherung von Registerdaten, die Spezialgesetzen unterliegen, wie z. B. das Ausländerzentralregister. Hier werden jährlich große Mengen an Daten gelöscht und sind damit unwiederbringlich für künftige Generationen verloren. Während in den meisten Landesarchivgesetzen das Archivgesetz die Löschungsvorschriften der Spezialgesetze überschreibt, sollte im Bund der für die Bürgerinnen und Bürger deutlich transparentere Weg beschritten werden: die Aufnahme einer Erlaubnis zur dauerhaften Aufbewahrung von Daten in die Spezialgesetze. Diese Gesetzesänderungen sind aber bisher nicht erfolgt. Das führt dazu, dass z. B. die Daten derjenigen Menschen, die in den letzten Jahren neu in unser Land gekommen sind, nicht gesichert werden dürfen und so ihren Nachkommen in 100 Jahren die Frage nach Herkunft und Abstammung nicht wird beantwortet werden können. Ein angemessener Ausgleich zwischen Datenschutz und Recht auf Erinnern steht hier noch aus.

 

Und nicht zuletzt braucht es natürlich auch Menschen, die die Arbeit im Archiv machen. In Fachkreisen wird seit Langem über das Berufsbild „Archivar/in“ diskutiert, der oder die möglichst neben ausgewiesener Expertise im Bereich mittelalterlicher Urkunden in lateinischer, französischer und deutscher Sprache XML, SQL und Java beherrschen sowie kompetente Stellungnahmen zur deutschen Umsetzung der EU-Richtlinie zum Urheberrecht oder zur Informationsweiterverwendung abgeben können sollte, während er oder sie die diversen Social-Media-Kanäle des Archivs kreativ und möglichst rund um die Uhr bespielt. Diesen Herausforderungen lässt sich aber nicht mit Berufsbilddiskussionen begegnen, sondern nur mit einer Neuausrichtung des gesamten Berufsfeldes „Archiv“, das mehr und mehr echte Spezialisten in den Bereichen Informationstechnologie, Recht und Öffentlichkeitsarbeit benötigt, die aber unter den Bedingungen des öffentlichen Dienstes nicht ohne Weiteres zu gewinnen sind. Die Berufsbilddiskussion blendet zudem aus, dass Archive nicht nur ein Arbeitsplatz für Hochschulabsolventinnen und -absolventen sind, sondern dass die Mehrzahl der Beschäftigten in verschiedensten Ausbildungsberufen arbeitet. Hier besteht die Herausforderung, dass auch Qualifikationen benötigt werden, die „am Markt“ nicht mehr ausgebildet werden, wie z. B. im Bereich der analogen Filmbearbeitung, die im Bundesarchiv als Voraussetzung für die Digitalisierung noch viele Jahre zwingend benötigt werden.

 

So pendeln die Aufgaben des Bundesarchivs zwischen Tradition und Innovation. Die strategische Herausforderung bleibt, das Alte mit neuen Methoden zu bewahren und die Gesellschaft von der Relevanz dieser Arbeit so zu überzeugen, dass dafür ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/themen/erinnerungskultur/archive/das-alte-mit-neuen-methoden-bewahren/