„TOTER MANN“ – lebendig!

Karlaugust Düppengießer und das erste Arbeiterhörspiel der Rundfunkgeschichte

Und die „Düsseldorfer Zeitung“ lobte nicht minder begeistert: „Da ist alles ausgereift und ausgewuchtet, jedes Wort sitzt und ist ein Teil des Ganzen, nichts ist willkürlich und überflüssig. Düppengießer ist mehr als ein erfolgreicher Dilettant: ein Dichter meldet sich zu Wort (…).“

 

Der „Tote Mann“, das ist überraschend festzustellen: Er lebt am Ende. Hannes Rader soll nicht sterben – so will es die gesendete Fassung. Das Typoskript der Urfassung, das Düppengießer mir übergab, zeigt allerdings einen anderen Schluss: Düppengießers „Toter Mann“ ist am Ende tatsächlich tot. Hannes Rader wirft sich vor ein Auto und stirbt als Märtyrer der Arbeiterschaft. Warum hat er den Schluss geändert oder einer Änderung durch den Sender zugestimmt, fragte ich ihn: „Den Schluss hatte ich in Skizzen schon vorliegen. Ich hatte aber nicht den Mut, das auch noch Hardt zu zeigen. Irgendwie wußte ich, daß es ihm zu nah war: Wo die Menschen alle arbeitslos waren und der dann auch noch vors Auto springt! Das war gut, aber er sollte nicht sterben. Mein Hannes, der sollte nicht sterben!“, so Düppengießer in unserem Gespräch 1985.

 

Und so lebt er weiter, der Arbeiter Hannes Rader, in der Realisation durch Ernst Hardt. Wir wissen nicht, wie die Hörer des Jahres 1931 auf diesen Schluss reagierten. Ebenso wenig können wir sagen, wie sie ihn verstanden haben. Dass die appellative Zukunftsvision sich – Hardts Worten gemäß – auf eine Befreiung des Menschen zum Menschsein bezog, auf die Aktivierung seiner inneren Selbstheilungskräfte – und wahrlich nicht auf die massenhysterische Ideologie der bereits lautstark gewordenen Nationalsozialisten, das ist offensichtlich. Ebenso wenig war es die Fahne der NSDAP, die man hier vielstimmig und euphorisch besang. Düppengießers Hörspiel wurde unter den neuen Machthabern nicht mehr wiederholt. Schon 1932 schien es dem zuständigen Redakteur zu gefährlich, um es – so zitiert Düppengießer aus einem Brief – „in dieser Zeit noch einmal zu bringen“.

 

Das Jahr 1933 markiert – auch in der Entwicklung des jungen Arbeiterschriftstellers Düppengießer – eine Zäsur. Zwar gab es noch die ein oder andere Lesung seiner Texte, zwar sprach er noch 1936 über „Arbeiter als Dichter“, doch zu weiteren eigenen Rundfunkarbeiten kam es nach Ernst Hardts Ausscheiden nicht mehr. Düppengießer konzentrierte sich auf seine berufliche Arbeit. Durch Abendkurse weitergebildet, wurde er aufgrund seiner Schreibbegabung zum „Sachbearbeiter für das Schrifttum“ der Stolberger Firma Prym. Etwa 140 Artikel schrieb er in dieser Funktion für technische Fachzeitschriften. Bald gestaltete er Messestände, drehte technische Lehrfilme, unter anderem bei der Bavaria, und avancierte schließlich zum Gesamtwerbeleiter des internationalen Unternehmens.

 

Parallel, so erzählte er mir, entstanden einige Erzählungen und sein einziger Roman „Dasein der Liebe“, den der Aloys Henn-Verlag Ratingen 1944 veröffentlichte. Ebenfalls 1944 wurde er – zur Umgehung seiner Einberufung – vom befreundeten Leiter der Prym-Niederlassung in Langenberg in Thüringen als Leiter der Bauabteilung des Werkes beschäftigt und zog nach Gera-Langenberg.

 

Der Arbeiter Düppengießer war zum Schriftsteller geworden, der Schriftsteller wiederum hatte den Arbeiter zum Sachbearbeiter werden lassen, zum Werbeleiter sodann und schließlich zum Betriebsleiter eines Werkes. Bis zum Rentenalter 1964 arbeitete Düppengießer als Betriebsleiter im VEB-Gerawerk Gera-Langenberg in Thüringen. Zum Abschluss seiner Dienstzeit verlieh man ihm einen Staatstitel: „Verdienter Erfinder der DDR“ – allerdings nicht als Erfinder literarischer Fiktion, sondern von weltweit patentierten (Klapp)Spaten!

 

1985, zwei Jahre vor seinem Tod, sahen wir uns zum ersten Mal persönlich in München. Wir führten Gespräche, saßen im Studio des Bayerischen Rundfunks, lasen Briefe und Zeitungsausschnitte, diskutierten seine frühen Werke, die er mir in drei großen Mappen mitgebracht hatte. KA Düppengießer, 1899 geboren, 86-jährig, ein quicklebendiger Mann, der trotz vierzigjährigen Lebens in Thüringen nichts von seinem rheinischen Humor verloren hatte und nur einen einzigen äußeren Makel zu tragen hatte, an dem er zum Verrücktwerden litt: „KA“, so wollte er genannt werden, war schwerhörig. So sehr, dass selbst das beste Hörgerät die Konversation nicht fließend machen konnte.

 

Es war bei dieser Gelegenheit, als ich ihm die im Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt gelagerte Kopie des Hörspiels „Toter Mann“ vorführte, um seine Reaktionen aufzunehmen. Er saß vor dem Tonbandgerät, vornübergebeugt, die Kopfhörer mit beiden Händen geschützt – und schüttelte den Kopf. Er schüttelte den Kopf so heftig, dass ich, aus Sorge, er könne nichts hören oder es sei ihm nicht gut, das Band stoppte: „Nein“, sagt er aufgeregt, immer noch den Kopf schüttelnd, „das kann nicht mein Hörspiel sein!“

 

KA war entsetzt über die langatmige, pathetisch klingende Kopie, die wir aus dem Deutschen Rundfunkarchiv bestellt und ihm mit Stolz vorgesetzt hatten. Es stellte sich heraus, dass Düppengießer eine private Kopie des „authentischen“ Hörspiels zu Hause hatte, einen Tonbandmitschnitt der im Archiv des Rundfunks der DDR verwahrten Kopie, die ganz anders klänge. Nicht so verrauscht, nicht so gedehnt, nicht so unerträglich pathetisch.

 

Wir trennten uns mit dem Versprechen, dass er die Bandkopie bei seinem nächsten Besuch mitbringen werde, um mich zu überzeugen, dass sein Hörspiel nicht so lahm gewesen ist wie es den Anschein hatte. 1986 dann lag das Heimtonband vor, und tatsächlich: Es war ein anderes Hörspiel als das, was wir in unseren westdeutschen Archiven hatten. Textidentisch und auch in Besetzung, Inszenierung und Verlauf gleich, aber unverkennbar temporeicher, lebendiger, moderner! Von jener gedehnten Langsamkeit des Sprechens, die uns bislang als vermeintliches Pathos der frühen Hörspielproduktionen der 1930er Jahre geläufig war, hatte Düppengießers Version nichts. Im Gegenteil: Die Sprecher wirkten lebendig und zeitnah, die Inszenierung themengerecht – so sehr, dass die Mithörenden, die ich zur „Premiere“ ins Studio des BR eingeladen hatte, mit Überraschung reagierten: „Der technisch sehr gut erhaltene Wachsplattenumschnitt der Westdeutschen Rundfunk AG (Werag) aus dem Jahr 1931 zeigt, wie hoch entwickelt die Hörspielkunst damals war. Der ‚Tote Mann‘ ist eine exakt komponierte Hörfolge aus Klang, Geräusch, Wort und Musik. Rhythmisch stampfen, klopfen die Hammerschläge, mischen sich mit den Geräuschen der Großstadt, die den arbeitslos gewordenen Schmied Hannes Rader verfolgen. Karlaugust Düppengießer hat nicht in die Leere des Äthers gesprochen: Sein Hörspiel klingt heute noch, nach 55 Jahren, erstaunlich modern und geht mit den Mitteln des Radios versierter um, als manches Gegenwartshörspiel“, so Michael Cornelius in der Süddeutschen Zeitung vom 14. November 1986.

 

Karlaugust Düppengießer, Hardts „Arbeiterseele“ des Jahres 1928, Autor des ersten Arbeiterhörspiels der deutschen Rundfunkgeschichte, Schreiner, Werbeleiter, Betriebsleiter, „Verdienter Erfinder der DDR“ – KA Düppengießer starb 88-jährig am 11. Oktober 1987 in Gera-Langenberg. Ich werde ihn nicht vergessen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.

Karl Karst
Karl Karst ist Kulturbeauftragter des WDR-Intendanten und Sprecher des Deutschen Medienrates im Deutschen Kulturrat.
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