„TOTER MANN“ – lebendig!

Karlaugust Düppengießer und das erste Arbeiterhörspiel der Rundfunkgeschichte

Wie häufig passiert es, einen Totgeglaubten putzmunter wiederzuentdecken? Erst recht, wenn er hinter einem „Vorhang“ versteckt war, den man den „eisernen“ nannte? Ich bin heute noch fasziniert von der Begegnung mit Karlaugust Düppengießer, dem Autor des ersten Arbeiterhörspiels der Rundfunkgeschichte „Toter Mann“, den ich 1984 in Gera-Langenberg wiederentdecken konnte: Ein Mann mit unverkennbar rheinischem Humor und jovialer Großherzigkeit, der immer noch einen jugendlichen Schalk in den Augen trug. Ich habe ihn gleich gemocht, als wir uns nach etwa einjähriger Korrespondenz 1985 in München zum ersten Mal leibhaftig sahen.

 

Aber der Reihe nach: Grund für meine Entdeckung war meine Dissertationsrecherche zu Ernst Hardt, dem ersten Intendanten des Westdeutschen Rundfunks in Köln. Ernst Hardt, mit „Tantris der Narr“ der meistgespielte Theaterdichter der Weimarer Republik, war Gründungsintendant des Nationaltheaters in Weimar und kurzzeitig, eher erfolglos, Generalintendant der Kölner Bühnen, als er 1927 auf Betreiben von Kölns Oberbürgermeister Konrad Adenauer zum ersten Intendanten der – nach Beendigung der französischen Besatzung – in Köln angesiedelten Westdeutschen Rundfunk AG (WERAG) wurde. Es war eine kurze und schmerzvolle Karriere, die 1933 mit der Machtübernahme der Nazis und mit seiner Verhaftung sowie mit seiner Internierung im Kölner Klingelputz endete.

 

Düppengießer, im April 1899 in Stolberg bei Aachen geboren, war 29 Jahre alt, als er sich an den „hochgeehrten“ Intendanten Ernst Hardt wandte, den er schon häufig in der „Stunde des Arbeiters“ des Westdeutschen Rundfunks hatte sprechen hören. Mit Datum vom 17. März 1928 schrieb er aus der Stolberger Rosentalstraße Nr. 3 an Ernst Hardt, dass seine Sendungen ihm den Mut gegeben hätten, „als Arbeiter eine Bitte an Sie zu wagen, welche so lauten soll: ›Lesen Sie bitte beiliegende Arbeiten von mir.‹ – Was noch mehr auf meiner Zunge brennt, wissen Sie. Ein Briefumschlag zur Rücksendung liegt bei. Mit wirklicher Hochachtung: August Düppengießer.“

 

Und Hardt schrieb gleich am 20. März 1928 zurück: „Sehr geehrter Herr Düppengießer! Herzlichen Dank für Ihre warmen Worte, die mich fast ein wenig beschämen – die beiden Gedichte, die Sie mir geschickt haben, sind sehr stark und schön. Haben Sie noch mehr Verse zu Hause und wollen Sie sie mir schicken? Mit einem herzlichen und dankbaren Gruß, Ihr ergebener Ernst Hardt.“

 

Zu den ersten Gedichten, die Hardt erhielt, zählt das Gedicht „Radiowelle“:

„Mein Arm ist schon Antenne, fühlt das Weben

Wunderwellen, fühlt das Wollen jener Welt (…) „

 

Im Juni 1928 präsentierte Ernst Hardt das Gedicht seinen Redaktionen, wenig später ließ er es in der Hauszeitschrift der WERAG veröffentlichen und schließlich auch im ersten Jahrbuch des Westdeutschen Rundfunks. Aber am sichtbarsten wurde seine Begeisterung, als er es auf einem übergroßen Werbeplakat für den Stand der WERAG auf der „Pressa“, der internationalen Kölner Presseschau, drucken ließ. Hardt schwelgte: „Für den Arbeiter unserer Zeit ist der Rundfunk das mächtigste, das unaufhörlich wirkende, ja, das unentrinnbare Mittel zur eigenen Differenzierung, zur Vermenschlichung, zur Kulturhaftigkeit.“

 

Hardt hatte die „Stunde des Arbeiters“ erfunden, in der praktische Informationen für Arbeiter durch Vorträge und Lesungen ergänzt wurden. In dieser Sendereihe konnte Karlaugust Düppengießer 1929 zum ersten Mal „weltöffentlich“ auftreten. Mit Stolz vermeldete die „Stolberger Zeitung“ am 28. Februar 1929: „Auf unsere Ankündigung hin saßen Dienstagabend viele Stolberger an der Strippe, um den über die Westdeutschen Sender von Generalintendant Ernst Hardt gesprochenen Werken unseres verehrten Mitbürgers, Herrn Karl August Düppengießer, lauschen zu können. Und fürwahr: es war eine Vorlesung, die im Rahmen des Tagesprogramms einen Höhepunkt bedeutete.“

 

„Toter Mann“

 

Düppengießers Hörspiel „Toter Mann“, das als erstes Arbeiterhörspiel des deutschen Rundfunks gilt, wurde am 23. Oktober 1931 urgesendet, vor 90 Jahren. Regisseur und Redakteur des Stückes war der Intendant selbst, Ernst Hardt. In der Sendereihe „Stunde des Arbeiters“ hatte er im Oktober 1931 eine „Woche der sozialen Hilfe“ ausgerufen und einen Programmschwerpunkt zur „Arbeitslosigkeit“ mit folgendem „Spendenaufruf“ eingeleitet: „Der Rundfunk umschließt in sich eine Gemeinschaft, seit Jahren wirkt er der Blindheit jener seelisch Verdorrten entgegen, denen Parteipolitik Menschlichkeit verbietet (…) Und eben an diese Gemeinschaft ergeht der Ruf in dieser Woche, Zeugnis abzulegen von der geistigen und seelischen Verbundenheit durch den Rundfunk! Jeder gebe, was er nur irgend zu geben vermag, und braucht er einen Lohn dafür, so sei es das Bewußtsein, daß durch seine Spende ein Ofen geheizt, ein Kleid geflickt, ein hungerndes Kind genährt sein wird“.

 

Kein Wunder, dass die Nazis in ihren Organen schon ab 1932 über Ernst Hardt herzogen: „Der Westdeutsche Rundfunk hat sich unter der Intendanz des Herrn Ernst Hardt zu einer Brutstätte pro-bolschewikischer Zersetzungsarbeit entwickelt. Man stelle sich vor: Von den neun Dezernaten des Westdeutschen Rundfunks sind die sieben wichtigsten mit Juden besetzt!“, so in Der Deutsche Sender, Ausgabe 4, Jahrgang 3, im Januar 1932.

 

„Toter Mann“ wurde am Sendetag gegen 21 Uhr, nach einer einstündigen Abendmusik, „uraufgeführt“. Und „aufgeführt“ wurde es tatsächlich: Live – mit dem Orchester hinter einem dämpfenden, die Blende ersetzenden Vorhang, mit dem Komponisten Hans Ebert am Dirigentenpult, mit dem Geräuschemacher Carl Heil in Wartehaltung, mit dem Regisseur Ernst Hardt am Regiepult, mit allen Beteiligten, Schauspielern und Hörstatisten zeitgleich und mucksmäuschenstill im großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks: Mit Willi Umminger als Vater Rader und Martha Walter als seiner Frau, mit Wolfgang Langhoff als Hannes Rader und Else Pfaff als Marie, mit Clara Seldburg, Hanns August Herten, Josef Kandner, Carl Wilhelmy, Paul Apel, Willi Stassar, Minna von Seemen, Richard Weimar, Kaete Bierkowski, Rudolf Rauher, Heinz Klingenberg, Walter Kosel und Albert Oettershagen sowie mit den Stimmen der Straße, den Stimmen des Stadtrats, dem Chor der Werkleute, dem Chor der Schmiede, dem Chor der Arbeitslosen, mit Burschen, Mädels und Kindern – und mit Frau Geheimrat Schulze aus Ostpreußen, kurzzeitig zu Besuch bei ihrer Schwester in der Ulmenallee …

 

Die Presse reagierte begeistert: Schon am Folgetag der Ursendung hieß es im „Kölner Tagblatt“: „Nie war die Idee des Dramas so groß, so lebensnah, nie war Theater so unmittelbar Ausdruck des Seienden. Neben dieser erschütternden Rundfunk-Stunde verblaßt alles, was das Theater unserer Generation bisher zu bieten hatte. Nie hat sich der Rundfunk so ganz erfüllt wie hier.“

 

Ebenfalls am 24. Oktober 1931 erschien in der samstäglichen Nachtausgabe der „Kölnischen Zeitung“ eine zweispaltige Besprechung von Walter Bölsche: „Ganz gewiß ist Düppengießer nicht nur ein Arbeiter, wie er in einer kurzen Selbstbiographie mitteilte, nicht nur einer, der die Not der Zeit und seine eigene hinausschreit, sondern ein literarisch belesener, geistig reger Mensch (…) Das Werk hält die Mitte zwischen einer Dichtung harter Realität und der eines poetisch doch erlösenden Idealismus (…) Die Aufführung unter der Leitung des Intendanten Ernst Hardt war von stärkster Kraft des Ausdrucks.“

Karl Karst
Karl Karst ist Kulturbeauftragter des WDR-Intendanten und Sprecher des Deutschen Medienrates im Deutschen Kulturrat.
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