Karl Karst - 29. April 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Arbeiterkultur

„TOTER MANN“ – lebendig!


Karlaugust Düppengießer und das erste Arbeiterhörspiel der Rundfunkgeschichte

Wie häufig passiert es, einen Totgeglaubten putzmunter wiederzuentdecken? Erst recht, wenn er hinter einem „Vorhang“ versteckt war, den man den „eisernen“ nannte? Ich bin heute noch fasziniert von der Begegnung mit Karlaugust Düppengießer, dem Autor des ersten Arbeiterhörspiels der Rundfunkgeschichte „Toter Mann“, den ich 1984 in Gera-Langenberg wiederentdecken konnte: Ein Mann mit unverkennbar rheinischem Humor und jovialer Großherzigkeit, der immer noch einen jugendlichen Schalk in den Augen trug. Ich habe ihn gleich gemocht, als wir uns nach etwa einjähriger Korrespondenz 1985 in München zum ersten Mal leibhaftig sahen.

 

Aber der Reihe nach: Grund für meine Entdeckung war meine Dissertationsrecherche zu Ernst Hardt, dem ersten Intendanten des Westdeutschen Rundfunks in Köln. Ernst Hardt, mit „Tantris der Narr“ der meistgespielte Theaterdichter der Weimarer Republik, war Gründungsintendant des Nationaltheaters in Weimar und kurzzeitig, eher erfolglos, Generalintendant der Kölner Bühnen, als er 1927 auf Betreiben von Kölns Oberbürgermeister Konrad Adenauer zum ersten Intendanten der – nach Beendigung der französischen Besatzung – in Köln angesiedelten Westdeutschen Rundfunk AG (WERAG) wurde. Es war eine kurze und schmerzvolle Karriere, die 1933 mit der Machtübernahme der Nazis und mit seiner Verhaftung sowie mit seiner Internierung im Kölner Klingelputz endete.

 

Düppengießer, im April 1899 in Stolberg bei Aachen geboren, war 29 Jahre alt, als er sich an den „hochgeehrten“ Intendanten Ernst Hardt wandte, den er schon häufig in der „Stunde des Arbeiters“ des Westdeutschen Rundfunks hatte sprechen hören. Mit Datum vom 17. März 1928 schrieb er aus der Stolberger Rosentalstraße Nr. 3 an Ernst Hardt, dass seine Sendungen ihm den Mut gegeben hätten, „als Arbeiter eine Bitte an Sie zu wagen, welche so lauten soll: ›Lesen Sie bitte beiliegende Arbeiten von mir.‹ – Was noch mehr auf meiner Zunge brennt, wissen Sie. Ein Briefumschlag zur Rücksendung liegt bei. Mit wirklicher Hochachtung: August Düppengießer.“

 

Und Hardt schrieb gleich am 20. März 1928 zurück: „Sehr geehrter Herr Düppengießer! Herzlichen Dank für Ihre warmen Worte, die mich fast ein wenig beschämen – die beiden Gedichte, die Sie mir geschickt haben, sind sehr stark und schön. Haben Sie noch mehr Verse zu Hause und wollen Sie sie mir schicken? Mit einem herzlichen und dankbaren Gruß, Ihr ergebener Ernst Hardt.“

 

Zu den ersten Gedichten, die Hardt erhielt, zählt das Gedicht „Radiowelle“:

„Mein Arm ist schon Antenne, fühlt das Weben

Wunderwellen, fühlt das Wollen jener Welt (…) „

 

Im Juni 1928 präsentierte Ernst Hardt das Gedicht seinen Redaktionen, wenig später ließ er es in der Hauszeitschrift der WERAG veröffentlichen und schließlich auch im ersten Jahrbuch des Westdeutschen Rundfunks. Aber am sichtbarsten wurde seine Begeisterung, als er es auf einem übergroßen Werbeplakat für den Stand der WERAG auf der „Pressa“, der internationalen Kölner Presseschau, drucken ließ. Hardt schwelgte: „Für den Arbeiter unserer Zeit ist der Rundfunk das mächtigste, das unaufhörlich wirkende, ja, das unentrinnbare Mittel zur eigenen Differenzierung, zur Vermenschlichung, zur Kulturhaftigkeit.“

 

Hardt hatte die „Stunde des Arbeiters“ erfunden, in der praktische Informationen für Arbeiter durch Vorträge und Lesungen ergänzt wurden. In dieser Sendereihe konnte Karlaugust Düppengießer 1929 zum ersten Mal „weltöffentlich“ auftreten. Mit Stolz vermeldete die „Stolberger Zeitung“ am 28. Februar 1929: „Auf unsere Ankündigung hin saßen Dienstagabend viele Stolberger an der Strippe, um den über die Westdeutschen Sender von Generalintendant Ernst Hardt gesprochenen Werken unseres verehrten Mitbürgers, Herrn Karl August Düppengießer, lauschen zu können. Und fürwahr: es war eine Vorlesung, die im Rahmen des Tagesprogramms einen Höhepunkt bedeutete.“

 

„Toter Mann“

 

Düppengießers Hörspiel „Toter Mann“, das als erstes Arbeiterhörspiel des deutschen Rundfunks gilt, wurde am 23. Oktober 1931 urgesendet, vor 90 Jahren. Regisseur und Redakteur des Stückes war der Intendant selbst, Ernst Hardt. In der Sendereihe „Stunde des Arbeiters“ hatte er im Oktober 1931 eine „Woche der sozialen Hilfe“ ausgerufen und einen Programmschwerpunkt zur „Arbeitslosigkeit“ mit folgendem „Spendenaufruf“ eingeleitet: „Der Rundfunk umschließt in sich eine Gemeinschaft, seit Jahren wirkt er der Blindheit jener seelisch Verdorrten entgegen, denen Parteipolitik Menschlichkeit verbietet (…) Und eben an diese Gemeinschaft ergeht der Ruf in dieser Woche, Zeugnis abzulegen von der geistigen und seelischen Verbundenheit durch den Rundfunk! Jeder gebe, was er nur irgend zu geben vermag, und braucht er einen Lohn dafür, so sei es das Bewußtsein, daß durch seine Spende ein Ofen geheizt, ein Kleid geflickt, ein hungerndes Kind genährt sein wird“.

 

Kein Wunder, dass die Nazis in ihren Organen schon ab 1932 über Ernst Hardt herzogen: „Der Westdeutsche Rundfunk hat sich unter der Intendanz des Herrn Ernst Hardt zu einer Brutstätte pro-bolschewikischer Zersetzungsarbeit entwickelt. Man stelle sich vor: Von den neun Dezernaten des Westdeutschen Rundfunks sind die sieben wichtigsten mit Juden besetzt!“, so in Der Deutsche Sender, Ausgabe 4, Jahrgang 3, im Januar 1932.

 

„Toter Mann“ wurde am Sendetag gegen 21 Uhr, nach einer einstündigen Abendmusik, „uraufgeführt“. Und „aufgeführt“ wurde es tatsächlich: Live – mit dem Orchester hinter einem dämpfenden, die Blende ersetzenden Vorhang, mit dem Komponisten Hans Ebert am Dirigentenpult, mit dem Geräuschemacher Carl Heil in Wartehaltung, mit dem Regisseur Ernst Hardt am Regiepult, mit allen Beteiligten, Schauspielern und Hörstatisten zeitgleich und mucksmäuschenstill im großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks: Mit Willi Umminger als Vater Rader und Martha Walter als seiner Frau, mit Wolfgang Langhoff als Hannes Rader und Else Pfaff als Marie, mit Clara Seldburg, Hanns August Herten, Josef Kandner, Carl Wilhelmy, Paul Apel, Willi Stassar, Minna von Seemen, Richard Weimar, Kaete Bierkowski, Rudolf Rauher, Heinz Klingenberg, Walter Kosel und Albert Oettershagen sowie mit den Stimmen der Straße, den Stimmen des Stadtrats, dem Chor der Werkleute, dem Chor der Schmiede, dem Chor der Arbeitslosen, mit Burschen, Mädels und Kindern – und mit Frau Geheimrat Schulze aus Ostpreußen, kurzzeitig zu Besuch bei ihrer Schwester in der Ulmenallee …

 

Die Presse reagierte begeistert: Schon am Folgetag der Ursendung hieß es im „Kölner Tagblatt“: „Nie war die Idee des Dramas so groß, so lebensnah, nie war Theater so unmittelbar Ausdruck des Seienden. Neben dieser erschütternden Rundfunk-Stunde verblaßt alles, was das Theater unserer Generation bisher zu bieten hatte. Nie hat sich der Rundfunk so ganz erfüllt wie hier.“

 

Ebenfalls am 24. Oktober 1931 erschien in der samstäglichen Nachtausgabe der „Kölnischen Zeitung“ eine zweispaltige Besprechung von Walter Bölsche: „Ganz gewiß ist Düppengießer nicht nur ein Arbeiter, wie er in einer kurzen Selbstbiographie mitteilte, nicht nur einer, der die Not der Zeit und seine eigene hinausschreit, sondern ein literarisch belesener, geistig reger Mensch (…) Das Werk hält die Mitte zwischen einer Dichtung harter Realität und der eines poetisch doch erlösenden Idealismus (…) Die Aufführung unter der Leitung des Intendanten Ernst Hardt war von stärkster Kraft des Ausdrucks.“

Und die „Düsseldorfer Zeitung“ lobte nicht minder begeistert: „Da ist alles ausgereift und ausgewuchtet, jedes Wort sitzt und ist ein Teil des Ganzen, nichts ist willkürlich und überflüssig. Düppengießer ist mehr als ein erfolgreicher Dilettant: ein Dichter meldet sich zu Wort (…).“

 

Der „Tote Mann“, das ist überraschend festzustellen: Er lebt am Ende. Hannes Rader soll nicht sterben – so will es die gesendete Fassung. Das Typoskript der Urfassung, das Düppengießer mir übergab, zeigt allerdings einen anderen Schluss: Düppengießers „Toter Mann“ ist am Ende tatsächlich tot. Hannes Rader wirft sich vor ein Auto und stirbt als Märtyrer der Arbeiterschaft. Warum hat er den Schluss geändert oder einer Änderung durch den Sender zugestimmt, fragte ich ihn: „Den Schluss hatte ich in Skizzen schon vorliegen. Ich hatte aber nicht den Mut, das auch noch Hardt zu zeigen. Irgendwie wußte ich, daß es ihm zu nah war: Wo die Menschen alle arbeitslos waren und der dann auch noch vors Auto springt! Das war gut, aber er sollte nicht sterben. Mein Hannes, der sollte nicht sterben!“, so Düppengießer in unserem Gespräch 1985.

 

Und so lebt er weiter, der Arbeiter Hannes Rader, in der Realisation durch Ernst Hardt. Wir wissen nicht, wie die Hörer des Jahres 1931 auf diesen Schluss reagierten. Ebenso wenig können wir sagen, wie sie ihn verstanden haben. Dass die appellative Zukunftsvision sich – Hardts Worten gemäß – auf eine Befreiung des Menschen zum Menschsein bezog, auf die Aktivierung seiner inneren Selbstheilungskräfte – und wahrlich nicht auf die massenhysterische Ideologie der bereits lautstark gewordenen Nationalsozialisten, das ist offensichtlich. Ebenso wenig war es die Fahne der NSDAP, die man hier vielstimmig und euphorisch besang. Düppengießers Hörspiel wurde unter den neuen Machthabern nicht mehr wiederholt. Schon 1932 schien es dem zuständigen Redakteur zu gefährlich, um es – so zitiert Düppengießer aus einem Brief – „in dieser Zeit noch einmal zu bringen“.

 

Das Jahr 1933 markiert – auch in der Entwicklung des jungen Arbeiterschriftstellers Düppengießer – eine Zäsur. Zwar gab es noch die ein oder andere Lesung seiner Texte, zwar sprach er noch 1936 über „Arbeiter als Dichter“, doch zu weiteren eigenen Rundfunkarbeiten kam es nach Ernst Hardts Ausscheiden nicht mehr. Düppengießer konzentrierte sich auf seine berufliche Arbeit. Durch Abendkurse weitergebildet, wurde er aufgrund seiner Schreibbegabung zum „Sachbearbeiter für das Schrifttum“ der Stolberger Firma Prym. Etwa 140 Artikel schrieb er in dieser Funktion für technische Fachzeitschriften. Bald gestaltete er Messestände, drehte technische Lehrfilme, unter anderem bei der Bavaria, und avancierte schließlich zum Gesamtwerbeleiter des internationalen Unternehmens.

 

Parallel, so erzählte er mir, entstanden einige Erzählungen und sein einziger Roman „Dasein der Liebe“, den der Aloys Henn-Verlag Ratingen 1944 veröffentlichte. Ebenfalls 1944 wurde er – zur Umgehung seiner Einberufung – vom befreundeten Leiter der Prym-Niederlassung in Langenberg in Thüringen als Leiter der Bauabteilung des Werkes beschäftigt und zog nach Gera-Langenberg.

 

Der Arbeiter Düppengießer war zum Schriftsteller geworden, der Schriftsteller wiederum hatte den Arbeiter zum Sachbearbeiter werden lassen, zum Werbeleiter sodann und schließlich zum Betriebsleiter eines Werkes. Bis zum Rentenalter 1964 arbeitete Düppengießer als Betriebsleiter im VEB-Gerawerk Gera-Langenberg in Thüringen. Zum Abschluss seiner Dienstzeit verlieh man ihm einen Staatstitel: „Verdienter Erfinder der DDR“ – allerdings nicht als Erfinder literarischer Fiktion, sondern von weltweit patentierten (Klapp)Spaten!

 

1985, zwei Jahre vor seinem Tod, sahen wir uns zum ersten Mal persönlich in München. Wir führten Gespräche, saßen im Studio des Bayerischen Rundfunks, lasen Briefe und Zeitungsausschnitte, diskutierten seine frühen Werke, die er mir in drei großen Mappen mitgebracht hatte. KA Düppengießer, 1899 geboren, 86-jährig, ein quicklebendiger Mann, der trotz vierzigjährigen Lebens in Thüringen nichts von seinem rheinischen Humor verloren hatte und nur einen einzigen äußeren Makel zu tragen hatte, an dem er zum Verrücktwerden litt: „KA“, so wollte er genannt werden, war schwerhörig. So sehr, dass selbst das beste Hörgerät die Konversation nicht fließend machen konnte.

 

Es war bei dieser Gelegenheit, als ich ihm die im Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt gelagerte Kopie des Hörspiels „Toter Mann“ vorführte, um seine Reaktionen aufzunehmen. Er saß vor dem Tonbandgerät, vornübergebeugt, die Kopfhörer mit beiden Händen geschützt – und schüttelte den Kopf. Er schüttelte den Kopf so heftig, dass ich, aus Sorge, er könne nichts hören oder es sei ihm nicht gut, das Band stoppte: „Nein“, sagt er aufgeregt, immer noch den Kopf schüttelnd, „das kann nicht mein Hörspiel sein!“

 

KA war entsetzt über die langatmige, pathetisch klingende Kopie, die wir aus dem Deutschen Rundfunkarchiv bestellt und ihm mit Stolz vorgesetzt hatten. Es stellte sich heraus, dass Düppengießer eine private Kopie des „authentischen“ Hörspiels zu Hause hatte, einen Tonbandmitschnitt der im Archiv des Rundfunks der DDR verwahrten Kopie, die ganz anders klänge. Nicht so verrauscht, nicht so gedehnt, nicht so unerträglich pathetisch.

 

Wir trennten uns mit dem Versprechen, dass er die Bandkopie bei seinem nächsten Besuch mitbringen werde, um mich zu überzeugen, dass sein Hörspiel nicht so lahm gewesen ist wie es den Anschein hatte. 1986 dann lag das Heimtonband vor, und tatsächlich: Es war ein anderes Hörspiel als das, was wir in unseren westdeutschen Archiven hatten. Textidentisch und auch in Besetzung, Inszenierung und Verlauf gleich, aber unverkennbar temporeicher, lebendiger, moderner! Von jener gedehnten Langsamkeit des Sprechens, die uns bislang als vermeintliches Pathos der frühen Hörspielproduktionen der 1930er Jahre geläufig war, hatte Düppengießers Version nichts. Im Gegenteil: Die Sprecher wirkten lebendig und zeitnah, die Inszenierung themengerecht – so sehr, dass die Mithörenden, die ich zur „Premiere“ ins Studio des BR eingeladen hatte, mit Überraschung reagierten: „Der technisch sehr gut erhaltene Wachsplattenumschnitt der Westdeutschen Rundfunk AG (Werag) aus dem Jahr 1931 zeigt, wie hoch entwickelt die Hörspielkunst damals war. Der ‚Tote Mann‘ ist eine exakt komponierte Hörfolge aus Klang, Geräusch, Wort und Musik. Rhythmisch stampfen, klopfen die Hammerschläge, mischen sich mit den Geräuschen der Großstadt, die den arbeitslos gewordenen Schmied Hannes Rader verfolgen. Karlaugust Düppengießer hat nicht in die Leere des Äthers gesprochen: Sein Hörspiel klingt heute noch, nach 55 Jahren, erstaunlich modern und geht mit den Mitteln des Radios versierter um, als manches Gegenwartshörspiel“, so Michael Cornelius in der Süddeutschen Zeitung vom 14. November 1986.

 

Karlaugust Düppengießer, Hardts „Arbeiterseele“ des Jahres 1928, Autor des ersten Arbeiterhörspiels der deutschen Rundfunkgeschichte, Schreiner, Werbeleiter, Betriebsleiter, „Verdienter Erfinder der DDR“ – KA Düppengießer starb 88-jährig am 11. Oktober 1987 in Gera-Langenberg. Ich werde ihn nicht vergessen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.


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