Lernorte interkultureller Bildung

Außerschulische Kultur - und Bildungsorte

Berlin, den 29.06.2011. Im Jahr 2009 hat der Deutsche Kulturrat den Runden Tisch „Lernorte interkultureller Bildung“ ins Leben gerufen, an dem verschiedene Migrantenorganisationen beteiligt sind. Im Jahr 2010 hat der Deutsche Kulturrat gemeinsam mit dem Bund Spanischer Elternvereine in der Bundesrepublik Deutschland e.V., der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland e.V., dem Bundesverband der Migrantinnen in Deutschland e.V., dem CGIL-Bildungswerk e.V., der Deutschen Jugend aus Russland e.V., der Föderation türkischer Elternvereine in Deutschland e.V., dem Multikulturellen Forum e.V., dem Polnischen Sozialrat e.V. sowie dem Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V., die erste Stellungnahme „Lernorte interkulturelle Bildung im schulischen und vorschulischen Kontext“ verabschiedet. Gemeinsam mit diesen Verbänden unterbreitet der Deutsche Kulturrat nun zusätzlich mit dem Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat Empfehlungen für Strukturbedingungen für eine nachhaltige interkulturelle Bildung in außerschulischen Kultur- und Bildungseinrichtungen.

 

Interkulturelle Öffnung der außerschulischen Kultur- und Bildungsorte
In Deutschland gibt es ein vielfältiges Angebot an Orten, an denen kulturelle Bildung vermittelt wird. Dazu gehören kulturpädagogische Facheinrichtungen, Kultureinrichtungen, Kulturzentren, Migrantenorganisationen, multikulturelle Einrichtungen, Jugendorganisationen, Kulturvereine, Kulturinitiativen etc. Angesichts der pluralen und multiethnischen Gesellschaft in Deutschland befassen sich diese Akteure verstärkt mit der Frage, wie sie sich mit ihren Angeboten und in ihren Strukturen interkulturell öffnen und dadurch einen Beitrag zu mehr Teilhabegerechtigkeit und Chancengleichheit leisten können. Ziel der interkulturellen Öffnung ist es, vielfältige und barrierefreie Zugänge zu Kunst- und Kulturangeboten zu ermöglichen und zu einer verstärkten Förderung interkultureller Kompetenzen beizutragen.

 

Interkulturelle Öffnung setzt das Engagement vieler Akteure im Feld der kulturellen Vermittlungsarbeit voraus. Im Sinne der UNESCO wird in der vorliegenden Stellungnahme von einem weiten Kulturbegriff ausgegangen, der nicht nur die traditionellen Kulturangebote einschließt, sondern auch „Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen“ (UNESCO-Erklärung, 1982).

 

Bedeutung der außerschulischen Kultur- und Bildungsorte
Zu den kulturpädagogischen Facheinrichtungen gehören unter anderem Musikschulen, Jugendkunstschulen, Soziokulturelle Zentren, Theaterpädagogische Einrichtungen, Kinder- und Jugendzirkusse, Spielmobile und Medienzentren. Der Aspekt der interkulturellen Bildung gewinnt in diesen Institutionen bereits seit Jahren an Bedeutung. So befassen sich viele Akteure verstärkt mit den Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund1, indem unter anderem kulturelle Erfahrungen und Traditionen wechselseitig aufgegriffen und kreativ umgesetzt werden. Die vermehrte Auseinandersetzung mit dem Thema interkulturelle Bildung lässt sich auch an den Studienangeboten der Hochschulen und Universitäten erkennen. Immer mehr Hochschulen und Universitäten integrieren in ihre pädagogischen Studiengänge den Schwerpunkt interkulturelle Bildung und den Erwerb von interkulturellen Kompetenzen für Lehrerinnen und Lehrer, Kulturpädagoginnen und Kulturpädagogen und sowie Erzieherinnen und Erzieher.

 

Auch Kultureinrichtungen wie etwa Museen, Theater, Konzerthäuser und Bibliotheken legen seit einigen Jahren ein besonderes Augenmerk darauf, ihre Angebote verschiedenen Alters- und Zielgruppen kulturpädagogisch zu vermitteln. Immer häufiger integrieren sie dabei aktuelle gesellschaftspolitische Themen in ihre Programme. In Workshops, Ausstellungen, Theaterstücken, Lesungen und anderen Veranstaltungen befassen sie sich zunehmend mit Themen wie Gleichberechtigung und Partizipation, kulturelle Vielfalt, kulturelle Identität in der Einwanderungsgesellschaft, Migrationserfahrungen, Religionszugehörigkeit, Mehrsprachigkeit und Diskriminierung.

 

Jenseits der kulturpädagogischen Facheinrichtungen und Kultureinrichtungen findet ebenfalls ein vielfältiges kulturelles Leben statt. In vielen Kulturzentren, Migrantenorganisationen, multikulturellen Einrichtungen, Jugend- und Laienorganisationen, Kulturvereinen und Kulturinitiativen wird ein differenziertes Angebot an kulturellen Aktivitäten unterbreitet. Dort werden unter anderem Instrumente erlernt, Theaterstücke aufgeführt, Tanz-, Literatur- und Lesekreise, Film- und Comicangebote ins Leben gerufen und es findet ein Austausch über Kunst und Kultur statt. Bei vielen dieser Einrichtungen wird sowohl Wert auf die Vermittlung kultureller Traditionen aus den jeweiligen Herkunftsländern als auch der Fokus auf die Kultur in Deutschland gelegt, indem beispielsweise Besuche in Museen und Bibliotheken organisiert werden. Zudem gibt es insbesondere in vielen Großstädten, unter anderem türkische, polnische, französische oder italienische Film- und Theaterfestivals, russische Musicalwettbewerbe und freie Künstler mit ausländischen Wurzeln, die ihre Kunst präsentieren und so wesentlich zum interkulturellen Austausch beitragen.

 

In all diesen Orten wird kulturelle Bildung vermittelt, das für das Zusammenleben in einer heterogenen Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Diese vielfältigen kulturellen Potentiale sollten vermehrt öffentlich sichtbar gemacht werden. Dafür bedarf es unter anderem einer stärkeren kulturpolitischen Wertschätzung und Sichtbarmachung des Kulturlebens der Zuwanderer.

 

Gründe für Nichtnutzung von Kulturangeboten
Die oben aufgeführten Angebote der außerschulischen Kultur- und Bildungsorte stehen jedem interessierten Bürger offen. Dennoch nutzen nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen diese Angebote. Deshalb befassen sich viele Einrichtungen mit der Frage, wie Menschen mit und ohne Migrationshintergrund erreicht werden können, die bisher kaum oder gar keine kulturellen Bildungsangebote wahrnehmen.

 

Wie die Gesellschaft als Ganzes, sind auch die verschiedenen Gruppen der Zuwanderer heterogen. Sie zeichnen sich in erster Linie nicht durch ihre ethnische, sondern ihre Milieuzugehörigkeit aus (vgl. SINUS-Milieustudie „Lebenswelten von Migranten“ aus dem Jahr 2007). Diese bestimmt maßgeblich das Kulturverhalten. Daher gibt es auch nicht nur einen Hauptgrund für die Nichtnutzung von bestimmten Kulturangeboten. Die Gründe sind so vielfältig, wie die „Nicht-Besucher“ und die Kultureinrichtungen an sich. Es scheint aber plausibel zu sein, dass unter anderem folgende Barrieren sowohl für die „Nicht-Besucher“ als auch die Kultureinrichtungen eine Rolle spielen und sich gegenseitig bedingen.

 

Zu den Barrieren für die „Nicht-Nutzer“ zählen unter anderem:

  • Sprachbarrieren;
  • sozioökonomische Hürden;
  • Unkenntnis, wo welche kulturellen Angebote unterbreitet werden;
  • Nichtidentifikation mit dem gezeigten Repertoire und der künstlerischen Ästhetik;
  • Nichtidentifikation mit den Organisationsformen der kulturellen Angebote;
  • Nichtidentifikation mit dem Personal beziehungsweise der Kulturvermittler in den Kultur- und Bildungseinrichtungen;
  • unterschiedliche Rezeptions- und Produktionsweisen von Kultur;
  • Hemmschwellen, Orte zu besuchen, an denen wenige Personen aus der eigenen Gruppe und Milieuzugehörigkeit anzutreffen sind;
  • geografische Erreichbarkeit der Kultur- und Bildungsorte.

 

Hemmnisse auf Seiten der Kultur- und Bildungsorte sind:

  • geringe finanzielle Möglichkeiten, durch große Werbekampagnen eine Vielzahl von interessierten Kulturnutzern zu erreichen;
  • fehlende interkulturelle Professionalisierung der Kultur- und Bildungseinrichtungen, um unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen;
  • geringe finanzielle Mittel, um ein vielseitig und interkulturell ausgerichtetes Kulturprogramm anzubieten;
  • Fehlen einer interkulturellen Selbstdarstellung der Kultur- und Bildungseinrichtung, die interkulturelle Offenheit und kulturelle Vielfalt vermittelt.

 

Studien zeigen, dass diese Barrieren in erster Linie nicht mit einem Migrationshintergrund zusammenhängen, sondern davon beeinflusst werden, welcher sozialen Gruppe, welchem Milieu sich jemand zugehörig fühlt oder auch davon, welche strukturellen und finanziellen Voraussetzungen eine Kultureinrichtung beziehungsweise -organisation hat. Bündeln sich diese Gründe, dann werden die Teilnahme an und die Erreichbarkeit zu bestimmten Kulturangeboten erschwert.

 

Empfehlungen
Um bestehende Hürden abzubauen, bedarf es einer interkulturellen Öffnung der Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie kultureller Bildungsangebote, die die interkulturelle Kompetenz sowohl von Menschen mit als auch ohne Migrationshintergrund stärken und sensibilisieren. Damit kulturelle und interkulturelle Bildung nachhaltig gelingen kann, bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen. Die nachstehenden Empfehlungen richten sich zum einen an die Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie an die Migrantenorganisationen. Zum anderen an die politische Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen.

 

Grundsätzliche Empfehlungen
Wir empfehlen, dass eine interkulturelle Öffnung und der Erwerb interkultureller Kompetenzen sowohl auf politischer als auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene und in allen Kultur- und Bildungseinrichtungen und Initiativen als Querschnittsaufgabe verstanden wird. Es gilt, Zugänge zu schaffen und eine nachhaltige interkulturelle Bildung in allen Kultur- und Bildungsorten zu gewährleisten. Dazu gehört die Anerkennung und Förderung der kulturellen Vielfalt in Deutschland, die von der Vielfalt der unterschiedlichsten kulturellen Angebote und Traditionen lebt; gleich ob sie aus der Hochkultur oder der Breitenkultur kommen. Darüber hinaus muss Teilhabe und Partizipation durch eine entsprechend ausgerichtete Kulturfinanzierung ermöglicht werden.

 

Empfehlungen an Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Migrantenorganisationen
1. Strukturelle interkulturelle Öffnung:

  • Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Migrantenorganisationen sollten interkulturelle Leitbilder beziehungsweise die Umsetzung von Diversitätskonzepten (Diversity Mainstreaming) entwickeln, die die Personalstrukturen, die Zielgruppenansprache sowie die Programmgestaltung umfassen;
  • Kultur- und Bildungseinrichtungen sollten den Anteils des Personals mit Migrationshintergrund auch in den Leitungsebenen erhöhen;
  • Kultur- und Bildungseinrichtungen sollten eine Willkommens- und Anerkennungskultur etablieren mit einem besonderen Fokus auf Besucher mit Migrationshintergrund und sozial Benachteiligte;
  • Kultur- und Bildungseinrichtungen sollten sich stärker dezentralisieren, um eine bessere sozialräumliche Erreichbarkeit zu ermöglichen;
  • Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Migrantenorganisationen sollten sich vermehrt für Kooperationen vor Ort öffnen;
  • Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Migrantenorganisationen sollten tragfähige Strukturen schaffen, durch die langfristige und nachhaltige Kooperationen auf Augenhöhe ermöglicht werden können;
  • Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Migrantenorganisationen sollten verstärkt lokale Netzwerke aufbauen sowie in kommunalen Bildungsnetzwerken mitwirken.

 

2. Inhaltliche interkulturelle Öffnung:

  • Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Migrantenorganisationen sollten sich für die Interessen verschiedener Zielgruppen sensibilisieren sowie sich verstärkt um kulturelle Teilhabe für alle bemühen;
  • Kulturvermittler und Kulturpädagogen in den Kultur- und Bildungseinrichtungen sollten verstärkt interkulturell qualifiziert werden;
  • Kultur- und Bildungseinrichtungen sollten verstärkt mehrsprachige Angebote unterbreiten, insbesondere im Hinblick auf die gesellschaftliche Zusammensetzung der Bewohner vor Ort;
  • Kultur- und Bildungseinrichtungen sollten sich verstärkt in der interkulturellen Zielgruppenansprache weiterbilden und dafür die Zeitungen, Radiosender, Fernsehsender, Internetangebote etc. der jeweiligen Zielgruppen stärker nutzen.

 

Empfehlungen an die Politik: Bund, Länder und Kommunen
1. Inhaltliche interkulturelle Öffnung:

  • Bund, Länder und Kommunen sollten verstärkt interkulturelle Konzepte für Bund, Länder und Kommunen unter Berücksichtigung bereits bewährter und innovativer Konzepte entwickeln;
  • Länder sollten in den Ausbildungsgängen für Kulturmanager, Kulturvermittler, Kulturpädagogen verstärkt den Aspekt der interkulturellen Qualifizierung berücksichtigen;
  • Bund, Länder und Kommunen sollten ihre Verwaltungsmitarbeiter vermehrt interkulturell qualifizieren und Weiterbildungsmaßnahmen anbieten;
  • Bund und Länder sollten die allgemeinen Freiwilligendienste im Kulturbereich weiter ausbauen und verstärkt Personen mit Migrationshintergrund ansprechen;
  • Bund, Länder und Kommunen sollten Studien über die unterschiedliche Nutzung kultureller Bildungsangebote der verschiedenen Milieus und Identifizierung der Gründe für die Nichtnutzung bestimmter Kulturangebote in Auftrag geben.

 

2. Finanzielle und strukturelle Förderung:

  • Bund, Länder und Kommunen sollten die strukturellen und finanziellen Förderungen von kommunalen und freien Trägern und Verbänden, die interkulturelle Bildungsangebote unterbreiten, weiter ausbauen und sie in ihren Bemühungen um eine interkulturelle Öffnung und interkulturelle Aktivitäten unterstützen;
  • Bund, Länder und Kommunen sollten verstärkt die migrantische Breitenkultur sowie die zeitgenössische Kultur von Migrantinnen und Migranten fördern, sichtbar machen und Anerkennung zukommen lassen durch:
    • Strukturförderungen und finanzielle Unterstützungen
    • Bereitstellung von Räumlichkeiten
    • Professionalisierung und Qualifizierung von bürgerschaftlich Engagierten
    • Weiterbildungsmaßnahmen für Migrantenorganisationen im Kulturbereich sowie im Bereich der Kulturellen Bildung
    • Auslobung von Preisen

 

3. Unterstützung von Kooperationen:

  • Bund, Länder und Kommunen sollten verstärkt den Austausch, die Kooperation und die Zusammenarbeit von Kultureinrichtungen, Migrantenorganisationen und den kulturpädagogischen Facheinrichtungen vor Ort strukturell und finanziell unterstützen, um den gemeinsamen Dialog zu verstärken;
  • Bund, Länder und Kommunen sollten verstärkt multinationale Projekte fördern, die den Austausch unterschiedlicher kultureller Einflüsse beispielsweise durch die Einbindung von Partnerstädten und Künstlern, die an Artist-in-Residence Programmen teilnehmen, unterstützen.
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