I dentität und Abgrenzung sind Nachbarn. Wer man selbst ist, das wird man auch beim Blick auf andere gewahr. Kein Wunder also, dass in Zeiten starker Zuwanderung und offener Grenzen die Frage nach der deutschen Identität Konjunktur hat. Diese Debatte kann unter zwei verschiedenen Vorzeichen geführt werden. Unter dem Schlagwort einer deutschen „Leitkultur“ mit unübersehbar aus- und abgrenzender Tendenz oder als integrative Wertedebatte, bei der es darum geht, was unsere Gesellschaft ausmacht und zusammenhält.
Die Parole von der „Leitkultur“ ist als trotziger kultureller Anpassungsimperativ gegenüber Migranten unbrauchbar für die Herausforderungen unserer Zeit. Müll trennen, Vorgarten harken und sonntags Tatort gucken? Das machen viele, aber das ist nicht der Wesenskern der politischen Gemeinschaft, die unser Staat nun einmal ist. Fragt man hingegen nach den Werten, dann sind da zunächst Demokratie und Menschenrechte. Diese Grundwerte anzuerkennen, das können und müssen wir von allen einfordern – von denen, die hier schon lang leben, genau wie von den Flüchtlingen, die erst in diesem Jahr zu uns gekommen sind. Und das heißt ganz konkret: Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Schwule, Lesben und Transsexuelle können hier offen zu ihrer Identität stehen. Jeder darf hier seinen Glauben leben, niemand wegen Herkunft oder Religion ausgegrenzt werden. Antisemitismus – das geht im Land des Holocausts gar nicht!
Aber all das werden wir nicht mit dem erhobenen Zeigefinger vermitteln können oder indem wir bloß den Text unseres Grundgesetzes verteilen. Und: Wir haben auch keinen Anlass, uns über die Menschen, die zu uns kommen, moralisch zu erheben. Wir wissen sehr gut, wie lange es selbst in einem freien und liberalen Land gedauert hat, diese Werte tatsächlich im Alltag durchzusetzen: Gleichberechtigung, Glaubensfreiheit und die Anerkennung der menschlichen Würde stehen seit 1949 im Grundgesetz. Und doch waren Männer und Frauen jahrzehntelang nur auf den unteren Sprossen der Karriereleiter gleichberechtigt, war die Liebe schwuler Paare bis Ende der 1960er durch den § 175 StGB kriminalisiert, kommen antisemitische Hetze und Gewalt bis heute in Deutschland leider noch immer viel zu häufig vor.
Eine offene, bunte, freie Gesellschaft, die müssen wir alle gemeinsam gestalten und immer weiter vorantreiben. Das ist auch Sache der Rechtspolitik. Schon in der Vergangenheit hat sie die Weichen gestellt. Sie hat die Homosexualität zunächst entkriminalisiert und dann mit der „eingetragenen Lebenspartnerschaft“ und dem Adoptionsrecht schrittweise neben rechtlicher Gleichstellung auch zu mehr gesellschaftlicher Akzeptanz verholfen. Sie hat formelle Gleichberechtigung von Frauen auf dem Papier ersetzt durch eine aktive Förderungspolitik – ganz aktuell durch die Frauenquote für Aufsichtsräte, die in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft zu mehr Gleichberechtigung führen wird.
„Ein junger Mann mit Kippa, ein Minarett im Stadtbild, ein Sihk mit Turban – all das sind keine Widersprüche zum Grundgesetz, sondern das ist gelebte Religionsfreiheit.“
Auch wenn es um die Vielfalt der Kulturen und Religionen geht, kann die Rechtspolitik einen großen Beitrag zur Integration leisten. Nach Schätzungen leben bereits 4 Millionen Muslime in Deutschland. Der überwiegende Teil der Flüchtlinge, die zurzeit zu uns kommen, sind ebenfalls Muslime. Da wird es immer wieder zu neuen Debatten über die Religionsfreiheit kommen – Kopftuchstreite inklusive. Wir sollten uns dabei klar machen: Ein junger Mann mit Kippa, ein Minarett im Stadtbild, ein Sihk mit Turban – all das sind keine Widersprüche zum Grundgesetz, sondern das ist gelebte Religionsfreiheit.
Wie halten wir es also mit der Religion? Eines steht aus meiner Sicht fest: Ein strikter Laizismus wie in Frankreich ist keine Lösung. Dort geht die Trennung von Staat und Kirche soweit, dass in staatlichen Schulen selbst Schüler keine religiöse Kleidung oder Symbole tragen dürfen. Ich halte davon gar nichts. Das tolerante Miteinander der Religionen fördert man nicht dadurch, indem man sie aus dem öffentlichen Raum verbannt. Ich bin der Meinung, das geht im Gegenteil besser, wenn wir mehr Begegnungen zwischen den Religionen schaffen und zwischen Gläubigen und nicht-religiösen Menschen. Heiner Bielefeldt, der UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit hat die tatsächliche Bedeutung staatlicher Neutralität auf den Punkt gebracht: Sie sei ein Fairnessprinzip des Staates im Umgang mit dem religiösen Pluralismus. Der neutrale Staat ist nicht etwa wertfrei oder indifferent. Im Gegenteil: Seine Werte sind die Vielfalt und der gegenseitige Respekt.
Konkret bedeutet das: Die Möglichkeiten und Privilegien, die unser Religionsverfassungsrecht anbietet, stehen nicht nur den beiden christlichen Großkirchen offen, sondern gelten auch für andere Religionsgemeinschaften. Staatsverträge sind dabei ein wichtiger Schritt hin zu einem deutschen Islam. Sie könnten die Ausbildung islamischer Theologen an deutschen Universitäten regeln. Manche Probleme ergeben sich ja daraus, dass Imame aus Ländern kommen, in denen es keine Freiheit, keine Vielfalt und keine Gleichberechtigung der Frauen gibt. Wir brauchen deutsche Imame, die unsere Wertordnung kennen und leben, und die hier ausgebildet sind. Dann werden sich viele hier lebende Muslime Deutschland sehr viel mehr verbunden fühlen.
„90 Prozent der religiösen Muslime in Deutschland halten die Demokratie für eine gute Regierungsform und zeigen eine starke Verbundenheit mit unserem Staat und unserer Gesellschaft.“
Das könnte gerade jungen Muslimen ein positives Leitbild geben. Ein neuer demokratischer, europäischer Islam könnte so auch eine Rolle spielen bei der Bekämpfung von Gewalt und Terrorismus extremer Kämpfer. Wenn Muslime mit gleichen Rechten ausgestattet sind, dann werden sie auch eher Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen. Auch jetzt erheben muslimische Verbände, Imame in den Moscheen und auch auf Demonstrationen viele Zuwanderer ihre Stimme, wenn im Namen ihrer Religion gemordet wird. Ich glaube, die Radikalisierung einzelner kann noch früher und wirksamer gestoppt werden, wenn klar ist, dass Muslime und ihr Glauben selbstverständlich Teil dieses Landes sind. Die Identifikation ist ja bereits erstaunlich groß. Das zeigen aktuelle Studien: 90 Prozent der religiösen Muslime in Deutschland halten die Demokratie für eine gute Regierungsform und zeigen eine starke Verbundenheit mit unserem Staat und unserer Gesellschaft. Ich meine: Die restlichen 10 Prozent – das schaffen wir auch noch.
Wir müssen aber am Thema dranbleiben, und das bedeutet auch, dass wir noch viele Detailfragen klären müssen.