Wie halten wir es mit der Religion?

Über die Notwendigkeit einer neuen Wertedebatte

In Kanada ist gerade ein neuer Verteidigungsminister ernannt worden, ein ehemaliger Polizist. Der Mann ist Sihk und trägt natürlich einen Turban. In Frankreich dagegen wurde gerade von den höchsten Richtern bestätigt, dass die Angestellte eines Krankenhauses entlassen werden darf, weil sie als Muslima im Dienst ein Kopftuch getragen hat. Der Vergleich zeigt: Es gibt auch in den westlichen Demokratien bei diesem Thema keinen Königsweg.

 

Wie wollen wir hier in Deutschland also etwa mit Frauen im öffentlichen Dienst umgehen, die ein Kopftuch tragen? Verbieten wir ihnen, an Schulen Kinder zu unterrichten, als Richterinnen Urteile sprechen oder als Polizistinnen auf der Straße für Recht und Ordnung sorgen? Das liefe für viele muslimische Frauen de facto auf ein Berufsverbot hinaus. Für ihre Integration wäre es besser, ihnen möglichst viele Berufschancen zu eröffnen, auch im Staatsdienst. Dagegen spricht, dass eine kopftuch-tragende Lehrerin vielleicht ein falsches Zeichen setzt: Für viele Menschen und in vielen Teilen der Welt ist das Kopftuch eher Ausdruck männlicher Dominanz als der individuellen Glaubensüberzeug der Frauen. Im Unterricht könnten manche Schülerinnen und Schüler das dann missverstehen, dass Integration und die Gleichberechtigung der Geschlechter gar nicht gewünscht sind.

„Ein Zwei-Klassen-Regime für die Religionsfreiheit – das darf es nicht geben.“

Sicher ist: Wir können nur entweder alle religiösen Symbole aus dem Klassenzimmer verbannen oder sie alle zulassen. Das Kopftuch zu verbieten, nicht aber Kippa oder Nonnen-Habit, das lässt unsere Verfassung nicht zu. Ein Zwei-Klassen-Regime für die Religionsfreiheit – das darf es nicht geben. Und trotzdem können wir uns entscheiden: Gar keine religiösen Symbole an Schulen oder alle! Der Verweis auf die Werte unserer Verfassung wird an dieser Stelle nicht ausreichen. Wir müssen sie mit Leben füllen. Das wird nicht ohne intensive Debatte gehen.

 

Dabei dürfen wir auf keinen Fall die Fehler der Vergangenheit wiederholen: Selbst als bereits Millionen neue Mitbürger hier lebten, hat Deutschland sich immer noch nicht als Einwanderungsland begriffen. Von „Gastarbeitern“ war noch in den 1990er Jahren die Rede – die Alltagssprache kann manchmal entlarvend sein. Deutschkenntnisse, Ausbildung und Integration, das hat Deutschland deswegen viel zu lang vernachlässigt. Da haben wir viel verpasst, und viele aktuelle Integrationsprobleme haben mit diesen Fehlern zu tun.

 

Es ist deswegen falsch, wenn wir auch heute wieder mehr über die Risiken als über die großen Chancen der Zuwanderung sprechen. Wenn wir sie richtig gestalten, dann kommt sie allen zugute: Den Menschen, die zurzeit auf unsere Hilfe angewiesen sind, weil sie vor Terror, Unterdrückung oder Krieg in ihrer Heimat fliehen. Und den Menschen, die hier leben. Ohne Zuwanderer würde Deutschland schrumpfen und im Bevölkerungsschnitt immer älter werden. Die Auswirkungen merken wir schon heute, gerade in ländlichen Gegenden. Es gibt dort oft zu wenige Ärzte, und an manchen Orten werden Schulen nur deswegen nicht geschlossen, weil dort nun auch syrische Kinder eingeschult werden.

 

Wenn wir so erfolgreich bleiben wollen, wie wir es im Moment sind, dann müssen wir dafür sorgen, dass diese Kinder eines Tages starke Stützen unserer Gesellschaft sind: im Beruf, als Steuerzahler und als Staatsbürger.

 

Dass Respekt für andere belohnt wird, das zeigt das Beispiel von Alex Assali. In Syrien arbeitete der 37jährige Mann als Informatiker, aber er hat dort alles verloren und flüchtete mit dem Boot nach Europa. In Deutschland, sagt er, erfuhr er viel Herzlichkeit: Als er in Berlin seine Flüchtlingsunterkunft nicht fand, da nahm ihn eine alte Dame bei der Hand und brachte ihn dorthin. Alex Assali sagt: „Heute bin ich an der Reihe etwas zurückzugeben“. Deswegen kocht er jeden Tag auf dem Alexanderplatz für Obdachlose.

 

Menschen wie Alex Assali zeigen eindrucksvoll: Die Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft der vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, der Kirchen, Polizisten und Soldaten bekommen wir zurück. Ihr Einsatz wird dieses Land am Ende stärken. Denn er macht deutlich: Deutschland ist ein Land der Solidarität und des Zusammenhalts. Keine Frage, der Wind ist – gerade nach den Anschlägen in Paris – rauer geworden. Aber ich bin überzeugt: Die Menschlichkeit bleibt stärker als der Hass.

 

Dieser Text ist zuerst in Politik & Kultur 01/2016 erschienen.

Heiko Maas
Heiko Maas ist Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz
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