Bewegung im Werden

Zehn Thesen zur Leitkultur der Einwanderungsgesellschaft

Über das Fremde spricht es sich leichter als über das Eigene. Deshalb sind Flüchtlinge, die zu Hunderttausenden in unser Land kommen, zwar der Anlass, aber nicht die einzigen Adressaten der „Leitkultur“. Es ist wahr: Die, die zu uns kommen, brauchen eine Orientierung, die ihnen hilft, unsere Erwartungen, Regeln und Lebensformen zu verstehen. Sie sollen auch wissen, welche Voraussetzungen für das Heimischwerden in unserem Land gelten. Doch auch die Autochthonen oder die, die schon vor längerer oder gar sehr langer Zeit eingewandert sind, brauchen eine Orientierungshilfe, sie brauchen eine Verständigung und eine Vergewisserung. Wie wollen wir in einer Gesellschaft des sich zusehend verschärfenden Pluralismus der Herkünfte, Lebensformen und Vorstellungen von einer guten Zukunft gemeinsam leben? Die deutsche Gesellschaft, wir alle, werden uns mit den Flüchtlingen gemeinsam verändern. Eine Leitkulturdebatte unterläuft deshalb notwendig die Unterscheidung in „Sie“ und „Wir“, wenn sie sich ernst genug nimmt. In dieser Debatte geht es um den gemeinsamen Horizont aller.

 

Die aktuellen Flüchtlingsbewegungen mit dem Zielland Deutschland sind Vorboten einer Welt, in der die globalen Verwerfungen und Krisen, aber auch die Möglichkeiten und Chancen überall sichtbar werden. Wir Deutsche müssen uns fragen, wie wir uns als Einwanderungsgesellschaft verstehen. Lange haben wir diese Debatte nicht geführt – und sind doch eines der erfolgreichsten und liberalsten Länder der Welt geworden, bei all den integrationspolitischen Problemen, die es schon vor den Flüchtlingen gab. Die Verständigung über den gemeinsamen Horizont wird vor allem als Thematisierung von Verlustängsten geführt. Das „Eigene“ steht auf dem Spiel, auch wenn es schwer fällt, dieses „Eigene“ benennen zu können. Diese Sorge vor dem Verlust des Eigenen ist Ausdruck von Sorgen, aber auch von Kränkungen, weil durch die rasante Veränderung der Welt viele Erschütterungen zu innerer und äußerer Haltlosigkeit führen. Die Fremdheit mit der eigenen Welt trifft nun auch Fremde aus einer anderen Welt. Wer diese Kränkung auf den Fremden projiziert, für den ist das Eigene aber noch nicht sagbarer geworden. Er kann sich nur besser von der Leerstelle ablenken. Es bedarf deshalb einer auch öffentlichen Einübung ins Sprechen, ja Besprechen dessen, was angesichts der gewaltigen Bewegungen, die auch die deutsche Gesellschaft ergreifen, in den kommenden Spannungen zusammenhält. Dazu braucht es auch einen Sinn für die eigene Geschichte, vor allem aber eine gründliche Analyse. Wie funktioniert diese Gesellschaft denn? Was macht sie aus? Und woran scheitert sie? Fehlt diese Analyse, wird sie gar ersetzt durch ein apokalyptisches Raunen, dass jetzt eine Ära unwiederbringlich zu Ende geht, wird aus dem unsagbar Eigenen im Gegenüber zur Differenz des Fremden nur Wut und Abgrenzung bis zur Gewalt, jedoch keine „Kultur“.

 

Die Diskussion darüber, ob der Leitkulturbegriff geeignet und ungeeignet, längst verbraucht oder noch gar nicht richtig entdeckt ist, bleibt so lange ein Ablenkungsmanöver von Intellektuellen und Talkshow-Gästen, wie die Frage, welche Haltungen, welche Regeln und welche Orientierungen für das Miteinander in einer offenen, pluralen, freiheitlichen Gesellschaft es denn genau sind, die für unser Zusammenleben unabdingbar sind. Noch ist die Diskussion ähnlich verdruckst wie die Debatte um die Frage, ob es einen Kanon kultureller Regeln, Texte, Bücher oder Bilder geben muss, in dem diese künftig leitende Kultur bespielhaft aufgehoben ist. Eher diskutiert man über den Sinn oder Unsinn verbindlicher Kanonizes, als probeweise einen Kanon zusammenzustellen. Die Kanondebatten der letzten Jahre zeigen aber auch, dass in fruchtbaren Streits ein großer Konsens bleibt über das, was nach wie vor oder immer wieder neu für kostbar geachtet wird. Man könnte sogar weiter gehen: schon die intensive Diskussion über das, was zum Kanon gehört und was seine Kraft für die heute Lebenden verloren hat, ist Teil des Vergewisserungsprozesses: Was ist uns eigentlich wichtig? Ein Kanon versammelt das, was heute gültig ist. Der Kanon ist deshalb ein Modell für die Dynamik des Konservierens im heute nach den Kriterien von heute: Neue Texte kommen dazu, andere, ältere werden verworfen, noch ältere werden wiederentdeckt. Kanonisierungsprozesse sind Leitbildprozesse en miniature.

 

Leitkulturdebatten sind konservativ. Sie zu führen, steht deshalb Konservativen gut zu Gesicht. Allerdings geht es in diesem recht verstandenen Konservatismus nicht um den Schutz des Alten gegen die Bedrohung durch Neues. Schon gar nicht verbirgt sich hinter dieser Debatte eine politische Nostalgie. Der wahrhaft Konservative nimmt die Gegenwart, wie sie ist. Diesseits von Euphorie oder Untergangsphantasien, die er beide als Anmaßung gegenüber der Geschichte empfindet, fragt er nach dem Verteidigungswerten in der Veränderung, nicht nach einem Fluchtweg vor dieser Veränderung. Unter Umständen ist es deshalb der Konservative, der auch zum Vergessen oder Lassen von nur vermeintlich Wichtigem ermutigt. Konservatismus ist deshalb nicht das Gegenteil von einer Bewegung in eine offene Zukunft, sondern der Orientierungssinn. Die derzeitige Flüchtlingskrise ist eine Chance des Konservatismus für identitätspolitische Antworten, wenn es gelingt, Fragen nach Zugehörigkeit und Heimat, nach Selbstgewissheit und Gemeinsinn mit und für alle zu führen. Eine Identitätspolitik durch Abgrenzung schafft weder für individuelle noch für kollektive Identitäten stabiles Vertrauen in die eigenen Ressourcen. Identität durch Abgrenzung bleibt außenbestimmt und deshalb labil.

Petra Bahr
Petra Bahr ist Kulturbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
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