Heiko Maas - 26. Dezember 2015 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Wertedebatte

Wie halten wir es mit der Religion?


Über die Notwendigkeit einer neuen Wertedebatte

I dentität und Abgrenzung sind Nachbarn. Wer man selbst ist, das wird man auch beim Blick auf andere gewahr. Kein Wunder also, dass in Zeiten starker Zuwanderung und offener Grenzen die Frage nach der deutschen Identität Konjunktur hat. Diese Debatte kann unter zwei verschiedenen Vorzeichen geführt werden. Unter dem Schlagwort einer deutschen „Leitkultur“ mit unübersehbar aus- und abgrenzender Tendenz oder als integrative Wertedebatte, bei der es darum geht, was unsere Gesellschaft ausmacht und zusammenhält.

 

Die Parole von der „Leitkultur“ ist als trotziger kultureller Anpassungsimperativ gegenüber Migranten unbrauchbar für die Herausforderungen unserer Zeit. Müll trennen, Vorgarten harken und sonntags Tatort gucken? Das machen viele, aber das ist nicht der Wesenskern der politischen Gemeinschaft, die unser Staat nun einmal ist. Fragt man hingegen nach den Werten, dann sind da zunächst Demokratie und Menschenrechte. Diese Grundwerte anzuerkennen, das können und müssen wir von allen einfordern – von denen, die hier schon lang leben, genau wie von den Flüchtlingen, die erst in diesem Jahr zu uns gekommen sind. Und das heißt ganz konkret: Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Schwule, Lesben und Transsexuelle können hier offen zu ihrer Identität stehen. Jeder darf hier seinen Glauben leben, niemand wegen Herkunft oder Religion ausgegrenzt werden. Antisemitismus – das geht im Land des Holocausts gar nicht!

 

Aber all das werden wir nicht mit dem erhobenen Zeigefinger vermitteln können oder indem wir bloß den Text unseres Grundgesetzes verteilen. Und: Wir haben auch keinen Anlass, uns über die Menschen, die zu uns kommen, moralisch zu erheben. Wir wissen sehr gut, wie lange es selbst in einem freien und liberalen Land gedauert hat, diese Werte tatsächlich im Alltag durchzusetzen: Gleichberechtigung, Glaubensfreiheit und die Anerkennung der menschlichen Würde stehen seit 1949 im Grundgesetz. Und doch waren Männer und Frauen jahrzehntelang nur auf den unteren Sprossen der Karriereleiter gleichberechtigt, war die Liebe schwuler Paare bis Ende der 1960er durch den § 175 StGB kriminalisiert, kommen antisemitische Hetze und Gewalt bis heute in Deutschland leider noch immer viel zu häufig vor.

 

Eine offene, bunte, freie Gesellschaft, die müssen wir alle gemeinsam gestalten und immer weiter vorantreiben. Das ist auch Sache der Rechtspolitik. Schon in der Vergangenheit hat sie die Weichen gestellt. Sie hat die Homosexualität zunächst entkriminalisiert und dann mit der „eingetragenen Lebenspartnerschaft“ und dem Adoptionsrecht schrittweise neben rechtlicher Gleichstellung auch zu mehr gesellschaftlicher Akzeptanz verholfen. Sie hat formelle Gleichberechtigung von Frauen auf dem Papier ersetzt durch eine aktive Förderungspolitik – ganz aktuell durch die Frauenquote für Aufsichtsräte, die in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft zu mehr Gleichberechtigung führen wird.

„Ein junger Mann mit Kippa, ein Minarett im Stadtbild, ein Sihk mit Turban – all das sind keine Widersprüche zum Grundgesetz, sondern das ist gelebte Religionsfreiheit.“

Auch wenn es um die Vielfalt der Kulturen und Religionen geht, kann die Rechtspolitik einen großen Beitrag zur Integration leisten. Nach Schätzungen leben bereits 4 Millionen Muslime in Deutschland. Der überwiegende Teil der Flüchtlinge, die zurzeit zu uns kommen, sind ebenfalls Muslime. Da wird es immer wieder zu neuen Debatten über die Religionsfreiheit kommen – Kopftuchstreite inklusive. Wir sollten uns dabei klar machen: Ein junger Mann mit Kippa, ein Minarett im Stadtbild, ein Sihk mit Turban – all das sind keine Widersprüche zum Grundgesetz, sondern das ist gelebte Religionsfreiheit.

 

Wie halten wir es also mit der Religion? Eines steht aus meiner Sicht fest: Ein strikter Laizismus wie in Frankreich ist keine Lösung. Dort geht die Trennung von Staat und Kirche soweit, dass in staatlichen Schulen selbst Schüler keine religiöse Kleidung oder Symbole tragen dürfen. Ich halte davon gar nichts. Das tolerante Miteinander der Religionen fördert man nicht dadurch, indem man sie aus dem öffentlichen Raum verbannt. Ich bin der Meinung, das geht im Gegenteil besser, wenn wir mehr Begegnungen zwischen den Religionen schaffen und zwischen Gläubigen und nicht-religiösen Menschen. Heiner Bielefeldt, der UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit hat die tatsächliche Bedeutung staatlicher Neutralität auf den Punkt gebracht: Sie sei ein Fairnessprinzip des Staates im Umgang mit dem religiösen Pluralismus. Der neutrale Staat ist nicht etwa wertfrei oder indifferent. Im Gegenteil: Seine Werte sind die Vielfalt und der gegenseitige Respekt.

 

Konkret bedeutet das: Die Möglichkeiten und Privilegien, die unser Religionsverfassungsrecht anbietet, stehen nicht nur den beiden christlichen Großkirchen offen, sondern gelten auch für andere Religionsgemeinschaften. Staatsverträge sind dabei ein wichtiger Schritt hin zu einem deutschen Islam. Sie könnten die Ausbildung islamischer Theologen an deutschen Universitäten regeln. Manche Probleme ergeben sich ja daraus, dass Imame aus Ländern kommen, in denen es keine Freiheit, keine Vielfalt und keine Gleichberechtigung der Frauen gibt. Wir brauchen deutsche Imame, die unsere Wertordnung kennen und leben, und die hier ausgebildet sind. Dann werden sich viele hier lebende Muslime Deutschland sehr viel mehr verbunden fühlen.

„90 Prozent der religiösen Muslime in Deutschland halten die Demokratie für eine gute Regierungsform und zeigen eine starke Verbundenheit mit unserem Staat und unserer Gesellschaft.“

Das könnte gerade jungen Muslimen ein positives Leitbild geben. Ein neuer demokratischer, europäischer Islam könnte so auch eine Rolle spielen bei der Bekämpfung von Gewalt und Terrorismus extremer Kämpfer. Wenn Muslime mit gleichen Rechten ausgestattet sind, dann werden sie auch eher Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen. Auch jetzt erheben muslimische Verbände, Imame in den Moscheen und auch auf Demonstrationen viele Zuwanderer ihre Stimme, wenn im Namen ihrer Religion gemordet wird. Ich glaube, die Radikalisierung einzelner kann noch früher und wirksamer gestoppt werden, wenn klar ist, dass Muslime und ihr Glauben selbstverständlich Teil dieses Landes sind. Die Identifikation ist ja bereits erstaunlich groß. Das zeigen aktuelle Studien: 90 Prozent der religiösen Muslime in Deutschland halten die Demokratie für eine gute Regierungsform und zeigen eine starke Verbundenheit mit unserem Staat und unserer Gesellschaft. Ich meine: Die restlichen 10 Prozent – das schaffen wir auch noch.

 

Wir müssen aber am Thema dranbleiben, und das bedeutet auch, dass wir noch viele Detailfragen klären müssen.

In Kanada ist gerade ein neuer Verteidigungsminister ernannt worden, ein ehemaliger Polizist. Der Mann ist Sihk und trägt natürlich einen Turban. In Frankreich dagegen wurde gerade von den höchsten Richtern bestätigt, dass die Angestellte eines Krankenhauses entlassen werden darf, weil sie als Muslima im Dienst ein Kopftuch getragen hat. Der Vergleich zeigt: Es gibt auch in den westlichen Demokratien bei diesem Thema keinen Königsweg.

 

Wie wollen wir hier in Deutschland also etwa mit Frauen im öffentlichen Dienst umgehen, die ein Kopftuch tragen? Verbieten wir ihnen, an Schulen Kinder zu unterrichten, als Richterinnen Urteile sprechen oder als Polizistinnen auf der Straße für Recht und Ordnung sorgen? Das liefe für viele muslimische Frauen de facto auf ein Berufsverbot hinaus. Für ihre Integration wäre es besser, ihnen möglichst viele Berufschancen zu eröffnen, auch im Staatsdienst. Dagegen spricht, dass eine kopftuch-tragende Lehrerin vielleicht ein falsches Zeichen setzt: Für viele Menschen und in vielen Teilen der Welt ist das Kopftuch eher Ausdruck männlicher Dominanz als der individuellen Glaubensüberzeug der Frauen. Im Unterricht könnten manche Schülerinnen und Schüler das dann missverstehen, dass Integration und die Gleichberechtigung der Geschlechter gar nicht gewünscht sind.

„Ein Zwei-Klassen-Regime für die Religionsfreiheit – das darf es nicht geben.“

Sicher ist: Wir können nur entweder alle religiösen Symbole aus dem Klassenzimmer verbannen oder sie alle zulassen. Das Kopftuch zu verbieten, nicht aber Kippa oder Nonnen-Habit, das lässt unsere Verfassung nicht zu. Ein Zwei-Klassen-Regime für die Religionsfreiheit – das darf es nicht geben. Und trotzdem können wir uns entscheiden: Gar keine religiösen Symbole an Schulen oder alle! Der Verweis auf die Werte unserer Verfassung wird an dieser Stelle nicht ausreichen. Wir müssen sie mit Leben füllen. Das wird nicht ohne intensive Debatte gehen.

 

Dabei dürfen wir auf keinen Fall die Fehler der Vergangenheit wiederholen: Selbst als bereits Millionen neue Mitbürger hier lebten, hat Deutschland sich immer noch nicht als Einwanderungsland begriffen. Von „Gastarbeitern“ war noch in den 1990er Jahren die Rede – die Alltagssprache kann manchmal entlarvend sein. Deutschkenntnisse, Ausbildung und Integration, das hat Deutschland deswegen viel zu lang vernachlässigt. Da haben wir viel verpasst, und viele aktuelle Integrationsprobleme haben mit diesen Fehlern zu tun.

 

Es ist deswegen falsch, wenn wir auch heute wieder mehr über die Risiken als über die großen Chancen der Zuwanderung sprechen. Wenn wir sie richtig gestalten, dann kommt sie allen zugute: Den Menschen, die zurzeit auf unsere Hilfe angewiesen sind, weil sie vor Terror, Unterdrückung oder Krieg in ihrer Heimat fliehen. Und den Menschen, die hier leben. Ohne Zuwanderer würde Deutschland schrumpfen und im Bevölkerungsschnitt immer älter werden. Die Auswirkungen merken wir schon heute, gerade in ländlichen Gegenden. Es gibt dort oft zu wenige Ärzte, und an manchen Orten werden Schulen nur deswegen nicht geschlossen, weil dort nun auch syrische Kinder eingeschult werden.

 

Wenn wir so erfolgreich bleiben wollen, wie wir es im Moment sind, dann müssen wir dafür sorgen, dass diese Kinder eines Tages starke Stützen unserer Gesellschaft sind: im Beruf, als Steuerzahler und als Staatsbürger.

 

Dass Respekt für andere belohnt wird, das zeigt das Beispiel von Alex Assali. In Syrien arbeitete der 37jährige Mann als Informatiker, aber er hat dort alles verloren und flüchtete mit dem Boot nach Europa. In Deutschland, sagt er, erfuhr er viel Herzlichkeit: Als er in Berlin seine Flüchtlingsunterkunft nicht fand, da nahm ihn eine alte Dame bei der Hand und brachte ihn dorthin. Alex Assali sagt: „Heute bin ich an der Reihe etwas zurückzugeben“. Deswegen kocht er jeden Tag auf dem Alexanderplatz für Obdachlose.

 

Menschen wie Alex Assali zeigen eindrucksvoll: Die Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft der vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, der Kirchen, Polizisten und Soldaten bekommen wir zurück. Ihr Einsatz wird dieses Land am Ende stärken. Denn er macht deutlich: Deutschland ist ein Land der Solidarität und des Zusammenhalts. Keine Frage, der Wind ist – gerade nach den Anschlägen in Paris – rauer geworden. Aber ich bin überzeugt: Die Menschlichkeit bleibt stärker als der Hass.

 

Dieser Text ist zuerst in Politik & Kultur 01/2016 erschienen.


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