Kein Vertrauen in die eigene Kultur?

Leitkultur oder Wertedebatte: eine problematische Alternative

D ie Forderung nach einer Leitkultur ist ein Zeichen der Schwäche: Man hat offensichtlich kein Vertrauen in die Stärke dessen, was man für seine eigene Kultur hält und fordert daher bestimmte Schutzmaßnahmen. Wie wenig der Gedanke einer Leitkultur – wie auch immer man ihn füllen mag – tragfähig ist, zeigen nicht nur alle, wirklich alle wissenschaftlichen Erörterungen über Kultur, sondern dies ist auch der gemeinsame Tenor in den Stellungnahmen des Themenschwerpunktes der letzten Ausgabe dieser Zeitung. Man müsste daher gar nicht weiter darauf eingehen, wenn es nicht den Beitrag von Dorothee Bär (Seite 23) gäbe: Es ist der einzige Beitrag, der die Notwendigkeit einer deutschen Leitkultur behauptet. Bevor man diesen Beitrag angesichts des vehementen Widerstandes gegen den Begriff abtut, sollte man ihn lesen. Denn der Rest dieses Beitrages stimmt überraschenderweise weitgehend überein mit all den anderen Artikeln, die sich gegen eine Leitkultur aussprechen: Es geht um ein positives Bekenntnis zum gesellschaftlichen Wandel, es geht um unverrückbare Prinzipien – Gleichberechtigung von Frau und Mann, Religions- und Meinungsfreiheit etc. –, es geht um die unstrittige Basis des Zusammenlebens in Deutschland. Der Begriff der Leitkultur stört in diesem Beitrag geradezu, weil er von diesen Inhalten ablenkt. Das ist die Crux mit solchen Slogans und Schlüsselbegriffen: Sie laden dazu ein, von wesentlichen Inhalten abzulenken.

 

Doch ist die Alternative, nämlich die Forderung nach einer Wertedebatte, in dieser Hinsicht vernünftiger? Diese Forderung wird zudem in einigen Beiträgen verbunden mit dem Hinweis, dass das Grundgesetz und die rechtliche Grundordnung, „Verfassungspatriotismus“, nicht ausreichen und man sich daher erneut auf gemeinsame Werte einigen müsse. Es entsteht so der Eindruck, als ob unser Grundgesetz, die Europäische Grundrechtecharta oder die Menschenrechte bloß ein formales Regelungssystem seien. Dies ist aber keineswegs der Fall. All die genannten Regelungssysteme haben eine lange Tradition sowohl in der Praxis, in der sie erkämpft worden sind, als auch in der theoretischen Reflexion, in der man sie begründet hat. Sie sind philosophisch und anthropologisch ausgesprochen gehaltvoll und machen nur Sinn, weil sie auf dem Fundament eines sehr genau definierten Wertesystems ruhen. Auch in politischer Hinsicht sind sie ausgesprochen anspruchsvoll. Man muss sich nur einmal überlegen, dass Menschenrechte unteilbar sind, dass sie eine universelle Geltung haben, dass sie also überall und für alle Menschen gelten, dass es keine Hierarchie unter ihnen gibt. Wie groß der Konsens unter den großen Weltreligionen ist, hatte seinerzeit das Projekt „Weltethik“ von Hans Küng gezeigt: In allen entscheidenden Punkten stimmen die ethischen Grundlagen der Weltreligionen überein. Man muss sich also klarmachen, dass derjenige, der eine Wertedebatte führen will, letztlich die vorhandenen und weltweit akzeptierten Werte infrage stellt. Wozu also eine Wertedebatte, wenn es verbindliche Werte gibt, die weltweit in entsprechenden Konventionen und völkerrechtlich gültigen Pakten sogar als je nationales Recht ratifiziert wurden.

 

Es gibt noch einen weiteren Hinweis, der nachdenklich machen sollte. Gustav Seibt hat in einem interessanten Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 17.11.2015 (Seite 11) auf die Ambivalenz einer Rhetorik vom Kampf für die Werte hingewiesen. Zum einen weist er darauf hin, dass ein wichtiger Wert, für den wir kämpfen müssen, der Werterelativismus ist, also die Ablehnung einer zu starren Festlegung. Er weist auf die Gefahr hin, dass eine solche starre Festlegung auf bestimmte Werte durchaus in einen Glaubenskrieg ausarten könnte, was in der Geschichte immer wieder geschehen ist und was auch den gegenwärtigen Terror erklärt. Natürlich lässt er keinen Zweifel daran, dass in Deutschland der säkulare Rechtsstaat gilt, dass Frauen und Männer gleiche Rechte haben und dass Homosexualität hier eine anerkannte Lebensform ist. Er macht aber den Vorschlag, hierbei nicht von „Werten“ zu sprechen, sondern von Rechtsgrundsätzen und Regelwerken, die nicht der philosophischen Überhöhung als „Werte“ bedürften.

„Die Forderung einer Werteerziehung (…) hat allerdings das Problem, dass (…) die Gefahr besteht, genuin politische Probleme in den pädagogischen Raum abzuschieben“

Und ein anderes ist zu bedenken: Der Soziologe Richard Münch hat in einer klugen und interessanten Buchpublikation „Die Kultur der Moderne“ (1986) gezeigt, dass die zentralen Grundwerte westlicher Demokratien wie etwa Freiheit oder Gleichheit in England, Amerika, Frankreich und in Deutschland eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben. So bedeutet etwa Freiheit in angelsächsischen Ländern politische Freiheit, während man in der deutschen Tradition sehr stark an (bloß) geistige Freiheit gedacht hat, was zu der von Helmuth Plessner beschriebenen chronischen „Verspätung“ in unserer politischen Entwicklung führte. Dass dies nicht bloß interessante, aber nicht weiter wichtige theoretische Erörterungen sind, kann man an der aktuellen Debatte über das TTIP-Abkommen belegen. Natürlich ist jede Kritik am Inhalt und an dem Verfahren berechtigt. Zu kurz kommt in meiner Wahrnehmung allerdings die Tatsache, dass sich auf dem europäischen Kontinent und in den USA sehr unterschiedliche Vorstellungen des Verhältnisses von Staat, Markt und Gesellschaft entwickelt haben, die jeweils in ihrer historischen Entwicklung nachvollzogen werden, die zudem jeweils seriös in der politischen Philosophie und der Verfassungstheorie begründet werden können und die einen erheblichen Einfluss auf die jeweilige Haltung im Hinblick auf solche internationalen Freihandelsverträge haben. Sicherlich geht es um Gewinne und die Position auf dem Weltmarkt, es geht aber auch um das jeweilige Verständnis zivilisatorischer Grundwerte, bei dem es sich zeigt, dass „der Westen“ keineswegs eine homogene Einheit ist.

 

Einen letzten Punkt will ich erwähnen. Jede Wertedebatte endet letztlich in der Forderung, dass man eine Werteerziehung – insbesondere in der Schule – forcieren müsse. Natürlich ist es selbstverständlich, dass Pädagogik ein norm- und wertorientierter Prozess ist. Die Forderung einer Werteerziehung als Konsequenz einer Wertedebatte hat allerdings das Problem, dass zum einen die Gefahr besteht, genuin politische Probleme in den pädagogischen Raum abzuschieben und damit zu entsorgen. Sie verkennt zudem die Tatsache, dass Werte weniger durch pädagogische Interventionen entstehen, sondern vielmehr in der alltäglichen Praxis – auch der Politikerinnen und Politiker – erlebt und gelebt werden müssen.

 

Es geht daher aus meiner Sicht weniger darum, anerkannte Werte durch eine Debatte infrage zu stellen, sondern vielmehr, unsere vorhandenen rechtlichen Regelungssysteme wie insbesondere das Grundgesetz als Messlatte dafür zu nehmen, was in der Gesellschaft geschieht. Anstelle einer abstrakten Wertedebatte wäre es gerade für die organisierte Zivilgesellschaft angemessen, die deutschen Staatenberichte über die Umsetzung der verschiedenen Menschenrechtskonventionen kritisch zu evaluieren. Denn oft genug werden diese vom Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, dem diese Berichte zur Überprüfung vorgelegt werden müssen, mit zum Teil erheblichen Nachbesserungsauflagen zurückgeschickt: Eben weil die Praxis zu wenig den hehren Zielen und Werten entspricht.

 

Vor diesem Hintergrund ist positiv hervorzuheben, in welcher Weise sich der Kulturbereich aktuell um das Problem der Flüchtlinge kümmert: In der Praxis gibt es eine stark anwachsende Zahl von Initiativen und Projekten, die mit künstlerischen Mitteln ihren Beitrag zur Willkommenskultur leisten und die zeigen, dass keine kulturlosen Menschen kommen, die mit einer deutschen Leitkultur beglückt werden müssen. Auf der Ebene der Bundesverbände wiederum zeigen die diesbezüglichen Beschlüsse des Deutschen Kulturrates, dass und wie die impliziten Werte des Grundgesetzes lebendig gehalten werden.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 06/2015 erschienen.

Max Fuchs
Max Fuchs ist Erziehungswissenschaftler. Er war bis 2014 Direktor der Akademie Remscheid und bis März 2013 Präsident des Deutschen Kulturrates.
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