Mach Limonade aus Zitronen!

75 Jahre Israel

Wenn Sie in ein israelisches Restaurant gehen, liest sich das Menü wie ein Weltatlas. Zum Frühstück einen Bagel aus Polen und Shakshuka aus Nordafrika, dann Sabich aus dem Irak, Schnitzel aus Mitteleuropa, Pastrami aus Rumänien und zum Nachtisch Strudel aus Österreich. Hinter jedem Gericht steht die Geschichte von Menschen, die die Rezeptur nach Israel aus dem Westen oder dem Nahen Osten mitgebracht haben. Dadurch ist ein Schmelztiegel entstanden, der unsere Gesellschaft in der Welt einzigartig macht.

 

Die neuen Israelis haben von vorneherein eines gemeinsam gehabt: Sie machten Alija, weil sie Israel als Heimat des jüdischen Volkes aufbauen wollen. Sie wollten einen neuen Juden schaffen, der sein Land mit der eigenen Hände Arbeit aufbaut und der bereit ist, seine angestammte Heimat zu verteidigen. Nie wieder werden die Juden ihr Schicksal in die Hände anderer legen.

 

Meine Großmutter Friede Proskauer hat dies beherzigt und wollte mit ihrer Familie Berlin verlassen. Jahre vor dem Holocaust hat sie sich 1933 gegen ihren Mann Berthold durchgesetzt. Das war nicht ganz einfach, denn Berthold war ein preußischer Offizier und deutscher Patriot. Aber als 1933 die Bücher brannten, rechnete Friede damit, dass in Europa bald Menschen brennen. Sie war unbeirrbar in ihrer Entscheidung.

 

Von der Berliner Eisenzahnstraße am Kudamm ging es nach Haifa mitten in die Levante. Für Friede ein Kulturschock. Sie verehrte Goethe und Schiller und war Zeit ihres Lebens große Bewunderin des deutschen Dirigenten Kurt Masur.

 

Gesprochen wurde in ihrer neuen Umwelt kaum Deutsch, Französisch, Latein oder Englisch, was meine Großmutter beherrschte, sondern Hebräisch. Sie hatte bis an ihr Lebensende eine Sprachblockade und es nicht geschafft, es zu erlernen.

 

Die deutschen Juden, die sich vor den Nazis in Sicherheit brachten, zogen in eine Nachbarschaft, in der sie von nun an für ihr Überleben selber sorgen mussten. 1929 haben Araber ein grausiges Massaker an Juden in Hebron verübt, wo über Jahrtausende immer Juden lebten.

 

Bis zur Gründung Israels, war Palästina britisches Mandatsgebiet. 1939 legte die britische Regierung fest, dass in den nächsten fünf Jahren maximal 75.000 Juden nach Palästina einwandern dürften. Auch nach der Shoah hielt sie daran fest und schickte Schiffe mit jüdischen Überlebenden an Bord wieder nach Europa.

 

Erst als Staatsgründer David Ben-Gurion im Mai 1948 den Staat Israel gründete, konnten sämtliche Flüchtlinge ihren sicheren Heimathafen erreichen. Alle arabischen Staaten erklärten Israel umgehend den Krieg, um, wie sie sagten, „die Juden zurück ins Meer zu treiben“.

 

Einen palästinensischen Staat haben sie nicht gegründet, obwohl 1947 die UNO-Resolution 181 eine Teilung des Mandatsgebiets Palästina in einen palästinensischen und einen jüdischen Staat vorsah. Die Juden waren zwar nicht zufrieden, aber bereit, das Angebot anzunehmen. Die Araber wollten das ganze Land. So wurde der Unabhängigkeitskrieg ein Krieg um das nackte Überleben eines ganzen Volkes.

 

David Ben-Gurion blieb keine andere Wahl. Israel hatte nur 600.000 Einwohner. Die Juden waren in der Unterzahl und hatten keine Waffenindustrie. Die Tschechoslowakei war einziger Waffenlieferant. Auch die Überlebenden der Shoah mussten an die Front und haben für den Preis der Unabhängigkeit ihr Leben verloren. Bis heute muss Israel für sie kämpfen.

 

Israel gewann den Krieg unter schmerzhaften Verlusten. Ben-Gurion brauchte Verbündete und musste dazu eine Volkswirtschaft entwickeln. Das war nicht leicht, denn Moses war kein großer Navigator. Gott hat uns das Land von Milch und Honig versprochen und leider sind wir an den einzigen Fleck im Nahen Osten geführt worden, an dem es kein Öl und kein Wasser gab. Zwei Drittel Israels sind Wüste. Aber die erfinderischen Israelis haben das Sprichwort „Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade daraus!“ wörtlich genommen. Denn Israel hat in seinen Anfangsjahren hauptsächlich Zitrusfrüchte exportiert. Ben-Gurion, der sich als Realist sah, der an Wunder glaubte, entschied, selbst zu Deutschland muss Israel Beziehungen aufbauen. Deutschland, das für den Mord an sechs Millionen seiner jüdischen Schwestern und Brüdern verantwortlich war.

 

Erst 1965, als Ben-Gurion schon nicht mehr im Amt war, nahmen beide Länder gegen den Widerstand vieler Israelis diplomatische Beziehungen auf. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Westdeutschland war noch 1960 mehr als zehn Mal so hoch wie das von Israel.

 

Nach dem Ende der Sowjetunion überholten Hightech-Produkte die

Zitrusfrüchte in den Exportstatistiken. Die Neuankömmlinge aus der Sowjetunion waren oft in technischen Berufen ausgebildet und verschafften der israelischen Wirtschaft Auftrieb. Heute kommt die Hälfte der exportierten Güter aus dem Hightech-Sektor. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei über 50.000 US-Dollar und so zieht Israel fast mit Deutschland gleich.

 

Bevor es Hightech gab, musste es Wasser geben. Auch hier hat Israel aus der Not eine Tugend gemacht und 1967 die Tröpfchenbewässerung entwickelt. 90 Prozent des Abwassers werden wiederverwendet und der See Genezareth ist nicht mehr Hauptquelle des Frischwassers, sondern das Mittelmeer. 85 Prozent des Wassers kommen aus den Entsalzungsanlagen entlang der Küste.

 

Der Erfolg des Hightech-Sektors hat die gleiche Grundlage. Unsere Nachbarschaft zeichnete sich nicht durch friedfertige Länder wie Luxembourg aus. Israel konnte sich keine strategischen Fehler leisten. Es musste am laufenden Band Ideen entwickeln, um den selbsterklärten Feinden Israels immer einen Schritt voraus zu sein. Es zeigte sich dann mit der Zeit, dass Kriege nicht mehr so aussehen werden, wie der Unabhängigkeitskrieg 1948. Heute sind israelische Einrichtungen wie z. B. Krankenhäuser von doppelt so vielen Cyberangriffen betroffen – verglichen mit dem Durchschnitt in anderen Ländern der Welt. Bei der Ausbildung unserer Rekruten mussten wir zum Teil das Schießgewehr durch eine Tastatur ersetzen. Das hat funktioniert, weil in Israel Frauen für zwei und Männer für drei Jahre zur Armee müssen. Die Armee kann so aus den Besten und Klügsten auswählen, die mit ihren Talenten nach dem Wehrdienst die Welt in vielen Bereichen verändern können.

 

Diejenigen, die in der Armee Israel gegen Raketen aus dem Iran verteidigt haben, bringen ihr Wissen im israelischen Raumfahrtprogramm ein. Diejenigen, die Israel vor Cyberangriffen geschützt haben, gründen Hightech-Firmen. Checkpoint z. B., das Unternehmen, das die Firewall erfunden hat. Auch die Erfinder der Navigationsapp Waze haben zusammen das Programmieren in der Armee gelernt. Die App wurde 2013 von Google für knapp eine Milliarde Euro aufgekauft und hätte Moses’ Reise durch die Wüste verkürzt. Aber auch fernab der Armee wird Technologie entwickelt, die wesentlich für die Nachhaltigkeit ist. Zuletzt habe ich in meiner Residenz zu einer Veranstaltung geladen, bei der künstliches Fleisch aus dem 3D-Drucker verköstigt wurde. Mit der gleichen Technologie beleben israelische Forscher die Korallenriffe vor Eilat am Roten Meer.

 

Die Grundlage für all das ist die israelische Kultur mit all ihrer Vielfalt und ihrem Ideenreichtum. Laut „Nein“ zu Autoritäten zu sagen und die existierenden Paradigmen herauszufordern, macht Israel aus. Israelis wissen, dass von 20 Geschäftsideen 19 Mist sind. Sie geben dennoch nicht auf, empfinden Scheitern nicht als Schande und gründen mutig weiter. Dadurch bringen die Israelis den Deutschen das Fliegen bei und die Deutschen den Israelis das Landen. So ist eine wunderbare Kooperation zwischen Deutschland und Israel entstanden. Israel probiert und erfindet, und die deutschen Weltmarktführer investieren in die Technologien, die sich bewähren.

 

Zudem hoffe ich, dass Israel mit dem Arrow-3-Raketenabwehrsystem den Deutschen mehr Sicherheit bringen kann angesichts des Krieges in Europa. Für mich, als Nachfahre von deutschen Juden, die aus Deutschland geflohen sind, schließt sich so ein Kreis. Die Zukunft der deutsch-israelischen Beziehungen ist der Jugendaustausch. Wir müssen zusammenarbeiten, um ihn zu vertiefen und zu erweitern. Das ist die Brücke zwischen beiden Völkern.

 

Die lebhafte Kreativität findet sich auch in der Kulturszene Israels. Israel begann z. B. erst 1966 mit der Ausstrahlung von Fernsehsendungen. Heute sind Serien wie „Fauda“, „Shtisel“ und „Teheran“ berühmte Serien. Eine Episode von 45 Minuten entsteht im Durchschnitt für nur 150.000 Euro. In den USA rührt erst ab zwei Millionen Euro überhaupt jemand einen Finger. Ähnlich verhält es sich beim Tanz: Das Leben in unserer Nachbarschaft im Nahen Osten hat uns gelehrt, dass wir beim Tanzen vorsichtig sein müssen, ohne dem anderen auf die Füße zu treten. Israel hat gemessen an seiner Größe sehr viele herausragende Tanz-Companien hervorgebracht: Die Batsheva-, die Kibbutz- oder die Vertigo-Dance-Company. Es gibt kaum ein internationales Tanzfestival, das ohne ihre Beteiligung auskommt. Wie beim Essen, gilt hier: Die Mischung macht’s. Klassische Tänze aus Europa treffen auf jemenitische und marokkanische Traditionen. So entsteht etwas ganz Neues und Eigenes. Leider gibt es ein paar angesehene Kultureinrichtungen in Deutschland, die israelische Tänzerinnen und Tänzer angeblich aus politischen Gründen nicht mehr einladen. Das hat etwas Ironisches, denn gerade aus der Kulturszene in Israel kommt die größte Kritik an Israel.

 

Dass der deutsche Kulturbetrieb ein Problem mit Israel hat, wurde sehr deutlich auf der documenta 15. Es war kein Zufall, dass dort kein israelischer Künstler ausgestellt hat. Was aber ausgestellt wurde, waren scheußliche antisemitische Karikaturen, die für die BDS-nahen Kuratoren zunächst kein Problem waren. Das war nicht nur ein Foul im Mittelfeld, sondern eins im Strafraum, mit Elfmeter und einer roten Karte. Die hat aber niemand gezeigt. Stattdessen wurden die Kuratoren danach auch noch mit einer Gastprofessur in Hamburg belohnt.

 

Wir bemerken, dass immer mehr Druck auf Künstlerinnen und Künstler aus Israel ausgeübt wird, sich von ihrem Heimatland zu distanzieren, um eine Einladung zu legitimieren. Das ist eine scheinheilige Aufnahmeprüfung. Es geht nicht mehr um die Kunst, sondern um die israelische Herkunft. Das darf nicht sein. Wollen wir verhindern, dass israelbezogener Antisemitismus salonfähig wird, müssen wir dringend zusammen eine Debatte über die Doppelmoral bezüglich Israel führen, die eine Dämonisierung des Landes zur Folge hat. Propaganda gegen Juden und Israelis muss der Vergangenheit angehören.

 

Israel ist mit seinen 75 Jahren ein noch sehr junges Land und steht vor vielen Herausforderungen. Als einzige Demokratie im Nahen Osten ist es ständiger Bedrohung ausgesetzt und auch intern gibt es viele Hürden zu meistern. Ich lade Sie herzlich ein, Israels 75. Geburtstag zum Anlass zu nehmen, mit einem vorurteilsfreien Blick auf die Kultur und die Menschen des Landes zu blicken, auf die vielen Innovationen, von denen wir alle in Zukunft profitieren, und auf den Reichtum an Kreativität, den Israel zu bieten hat.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2023.

Ron Prosor
Ron Prosor ist Botschafter Israels in Deutschland.
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