Hollywood wittert den Big Deal

US-Studios greifen mit eigenen Plattformen den Streamingmarkt an

Doch auch für Kinobetreiber – gerade in der aktuellen schwierigen Situation – ist das Ringen der Streamingdienste eine massive Gefahr. „Die Allianz aus Kinobetreibern und Studios besteht nicht mehr wie noch vor fünf Jahren“, stellt dazu Gabriel Mohr, globaler Leiter des Medien Competence Center Arthur D. Little fest. Die Lage sei für die Kinos bedrohlich. Kinobetreiber erlebten derzeit einen perfekten Sturm. Gabriel Mohr geht davon aus, dass man Nachholeffekte sehen werde, sobald ein normaler Alltag und ein regelmäßiger Kinobesuch wieder möglich seien. Man dürfe nicht vergessen, dass das Geschäft mit großen Blockbustern für Betreiber wie Studios nach wie vor extrem lukrativ sei. Das Angebot der großen Streamingplattformen werde sicherlich die Bereitschaft senken, für mittelklassige Filme ins Kino zu gehen. Bei den großen Blockbustern sei dies anders. Die Kinos benötigten aber neue Konzepte, diese Filme auch zu vermarkten.

 

28 Prozent mehr Umsatz der Streamingplattformen in Deutschland

 

Corona hat bei der Mediennutzung für einen Digitalisierungsschub gesorgt. Sehr viel mehr Zeit verbringen die Bundesburger mit Videostreaming. Das Nutzungsvolumen, also die Zeit, die mit gestreamten Inhalten verbracht wurde, stieg nach Angaben der AGF Videoforschung 2020 im Vergleich zu 2019 bei Zuschauern gesamt um 46 Prozent, bei Erwachsenen von 14 bis 49 Jahre um 49,2 Prozent. Die durchschnittliche Sehdauer stieg im Bereich Streaming bei Zuschauern gesamt im Vergleich zu 2019 um 45,7 Prozent, bei Erwachsenen von 14 bis 49 Jahre sogar auf knapp 52 Prozent. Die Streamingzeit hat sich pro Woche fast verdoppelt, von 3,9 Stunden vor Corona auf nun 7,1 Stunden. Dabei ist der Anteil derjenigen, die angeben, Videostreaming gar nicht zu nutzen, von 29 auf 21 Prozent gesunken. Zugleich sagen 8 Prozent, dass sie in der Corona-Zeit 20 Stunden oder mehr pro Woche Videostreaming nutzen – das sind doppelt so viele Heavy Streamer wie noch vor der Corona-Pandemie mit 4 Prozent.

 

Parallel mit der gestiegenen Nutzungszeit der Streamingplattformen ist auch der deutsche Markt für kostenpflichtiges Videostreaming, das sogenannte Pay-VoD, 2020 erneut deutlich gewachsen. Entsprechend positiv entwickeln sich auch die Umsätze: Nach aktuellen Analysen von Goldmedia auf Basis der VoD-Ratings.com haben die Pay-VoD-Anbieter in Deutschland 2020 einen Umsatz von 3 Milliarden Euro erwirtschaftet. 2021 wird ein weiteres Wachstum um 25 Prozent auf dann rund 3,8 Milliarden Euro erwartet.

 

Damit übertrifft das Umsatzvolumen von Netflix und Co. den Markt für lineare Pay-TV-Kanale inzwischen deutlich und nähert sich immer mehr den Erlösen im deutschen Fernsehwerbemarkt.

 

Während die Wirtschaftsleistung in Deutschland insgesamt aufgrund der Corona-Pandemie 2020 um 5 Prozent sank, zählen die Pay-VoD-Anbieter zu den Profiteuren der Krise: Ihr Umsatz von 3 Milliarden Euro im Jahr 2020 entspricht einem Wachstum von 28 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Den größten Anteil haben die abonnementfinanzierten Angebote.

 

Ein radikaler strategischer Umschwung sieht anders aus

 

Die deutschen Streamingangebote, sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen, stehen dazu im Vergleich auf verlorenem Posten. So erreichte die ARD-Mediathek 2020 durchschnittlich 10,165 Millionen Menschen pro Monat und verzeichnet damit die größte Reichweite aller Streamingportale der deutschen Fernsehsender. TVNow, die Mediathek von RTL, vermeldete 1,286 Millionen zahlende Abonnenten und hat die Zahl zum Vorjahr um 64 Prozent gesteigert. Dazu im Vergleich: Netflix hat 7,5 Millionen Abonnenten in Deutschland.

 

„Die deutschen TV-Hauser sind daher gut beraten, die selbst ausgerufene Streamingoffensive umfassend anzugehen– mit allem, was man braucht, um in der Gunst der Zuschauer zu bestehen“., resümiert die Studie „Angriff aus Hollywood!“. Das müsse in einer Ära, in der Hollywood-Konzerne in den deutschen Markt einsteigen und den Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der hiesigen Zuschauer weiter verschärfen, wohl deutlich mehr sein als das, was die TV-Sender bisher boten.

 

Dabei mussten sich die deutschen TV-Sender mit ihren Ausgaben für Content nicht vor den Schwergewichten aus Hollywood und dem Silicon Valley verstecken. So hat die RTL Group im Jahr 2019 beispielsweise weniger als 100 Millionen Euro in Inhalte für die hauseigenen Streamingplattformen investiert – ein Bruchteil der rund 3,5 Milliarden Euro, die das TV-Haus insgesamt für Content ausgegeben hat. Im Vergleich: Amazon stellt seinem Prime-Angebot 5 Milliarden Euro als Budget zur Verfügung, und die globalen Budgets aller neuen Streamingangebote aus Hollywood, einschließlich Disney+, liegen sogar – zum Teil deutlich! – darunter. Auch die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten investieren ihre 8 Milliarden Euro jährlich nach wie vor überwiegend in linear ausgestrahlte Inhalte und überlassen den globalen Plattformen weiterhin das Feld, obwohl insbesondere ARD und ZDF ganz andere Möglichkeiten hatten. „Die TV-Sender verlängern zwar ihre linear ausgestrahlten Inhalte digital, sodass Synergieeffekte entstehen“, stellt die oben genannte Studie fest. „Aber ein radikaler strategischer Umschwung sieht anders aus und wurde eine sehr viel grundlegendere Umverteilung der finanziellen Ressourcen erfordern.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Helmut Hartung
Helmut Hartung ist Chefredakteur des Blogs www.medienpolitik.net.
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