Helmut Hartung - 25. März 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Hollywood wittert den Big Deal


US-Studios greifen mit eigenen Plattformen den Streamingmarkt an

„If the stream works, the dream works.“ – so war ein Panel der Consumer Electronics Show in Las Vegas dieses Jahr überschrieben. Dieser Slogan der weltweit größten Fachmesse für Unterhaltungselektronik steht für die Veränderungen in der Mediennutzung. Während die Kontakte beschränkt, Veranstaltungen abgesagt und Kinos geschlossen sind, liefert nicht mehr in erster Linie das Fernsehen die Traumwelten in die Wohnzimmer, sondern die Streamingplattformen, deren Nutzung seit Monaten stetig steigt. Zu diesem Siegeszug der Streamingdienste trägt inzwischen auch ein großes Hollywood-Studio bei. Vor genau einem Jahr hat der Mause-Konzern seine VoD-Plattform in Deutschland gestartet. Über 500 Filme, mehr als 350 Serien und 25 exklusive Disney+-Originals stehen bereit. Neben Animationsklassikern, Zeichentrickfilmen, Superhelden-Blockbustern der „Marvel“-Reihe und „Star Wars.-Titeln warten auch mehr als 600 Folgen der Kult-Animationsserie „Die Simpsons“ auf die Abonnenten. Disney-Klassiker wie „Bambi“, „Aladdin“, „König der Löwen“ oder auch „Die Eiskönigin“ gelangen seitdem mit dem Griff zur Fernbedienung ins Heimkino. Ob solche Blockbuster auch weiterhin zuerst den Weg ins Kino finden und erst dann auf die eigene Plattform, lässt sich heute noch nicht sagen. Disneys Millionen US-Dollar teurer Spielfilm-Remake des Trickfilmklassikers „Mulan“ ursprünglich für das Kino bestimmt, war ab September vergangenen Jahres on demand verfügbar. Zu einem Extra-Preis von 29,99 Dollar, umgerechnet rund 25 Euro, bleibt der Film so lange in der Bibliothek abrufbar, wie der Kunde ein Abo beim Streamingdienst besitzt.  Nicht nur in den USA, auch in Kanada, Neuseeland, Australien und westeuropäischen Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland können Disney+-Kunden den Film sehen. Wie man hört, durchaus finanziell erfolgreich. Weitere Streaming-Premieren hat das Studio deshalb nicht ausgeschlossen. Zwei Jahre nach seinem Start in den USA hat Disney+ die Marke von 100 Millionen zahlenden Abonnenten überschritten. Noch mache Disney mit seinem Streaminggeschäft aber keinen Gewinn, sagte Disney-Boss Bob Chapek. Derzeit gehe es vor allem um schnelles Wachstum. Der Abstand auf Marktführer Netflix ist nach wie vor beträchtlich, auch die Konkurrenz hat von Corona profitiert und zahlte zuletzt mehr als 200 Millionen Abonnenten.

 

Hollywood-Studios bedrängen Netflix & Co.

 

Die großen Entertainment-Konzerne aus Hollywood geben sich nicht mehr mit ihrer Rolle als Inhalte-Lieferanten für Netflix, Sky oder Fernsehsender zufrieden. Zu einflussreich sind ihnen die Streaminganbieter geworden und zu lohnend scheinen die Gewinnmargen durch den direkten Verkauf von Filmen und Serien an die Konsumenten ohne Zwischenhändler. Von den heute existierenden fünf Hollywood-Studios haben bis jetzt drei ihre eigenen Abo-Angebote bereits in Nordamerika an den Start gebracht: Walt Disney mit dem Streamingdienst Disney+, Warner, die zum AT&T-Konzern gehören, HBO Max und die Comcast Tochter Universal mit Peacock. Viacom CBS plant mit Paramount+ ebenfalls ein eigenes Angebot; nur Sony scheint noch unentschlossen. „Die Hollywood-Studios kleckern dabei nicht, sondern klotzen“, stellt dazu die Studie „Angriff aus Hollywood!“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Strategieberatung Roland Berger fest: „Sie produzieren aufwendige exklusive Inhalte wie die Star-Wars-Serie „The Mandalorian“, deren acht Folgen der ersten Staffel sich Disney 100 Millionen US-Dollar kosten lies, und nehmen Abstand von sicheren Einnahmen aus der Lizenzierung ihrer Inhalte in Milliardenhöhe.“ Bereits im Jahr vor dem Launch von HBO Max verzichtete etwa AT&T auf über eine Milliarde US-Dollar Lizenzgebühren seines Studios Warner Media; noch 2018 hatte Netflix allein für die Streamingrechte der Kultserie „Friends“ 100 Millionen US-Dollar bezahlt, wird in der genannten Studie analysiert.

 

Der Micky-Maus-Konzern hat angekündigt, bald auch mehr Serien und Filme für Erwachsene anzubieten, darunter das erfolgreiche Horrordrama „The Walking Dead“. Für solche Filme hat Disney+ den eigenen Kanal „Stars“ eingerichtet. Hier sollen Musicals, Actionfilme, Komödien, Serienklassiker wie „Akte X.“, „Grey’s Anatomy“ oder „Buffy“. zu sehen sein. Der Streamingdienst, der bislang vor allem Trickfilme und Superhelden präsentierte, wird damit zu einer noch größeren Bedrohung für alle anderen Anbieter. Disney besitzt im Gegensatz zu Netflix bereits die Verwertungsrechte und einen großen Fundus an attraktiven Inhalten, denn zum Konzern gehören beispielsweise auch die 20th Century Studios, die seit fast 100 Jahren Filme und Serien produzieren. Disney hat bereits angekündigt, dass viele dieser Archivschatze zukünftig auf „Stars“ verfügbar sein werden und das Studio wird sicher versuchen, alle Inhalte, über deren Rechte es verfügt, auch beim hauseigenen Streamingdienst zu vermarkten.

 

Der Wettbewerb der Streaminganbieter ist fur die Kinos eine Gefahr

 

Die neuen Wettbewerber sind mit ihren gut gefüllten Archiven und filmischem Know-how eine Gefahr und zugleich ein Gewinn für die etablierten Streaminganbieter: Auf der einen Seite okkupieren sie Aufmerksamkeit und Zeit der Nutzer, auf der anderen Seite wird die Attraktivität des Streamings erhöht und das „Kuchenstuck“ vergrößert, das die Plattformen untereinander aufteilen. Es werden diejenigen siegen, analysiert die Studie „Angriff aus Hollywood!“, „die ihren Nutzern den größten Mehrwert bieten. Netflix werde am härtesten vom „Hollywood-Effekt“. getroffen. Deshalb dürfe das Unternehmen die Bedürfnisse seiner Bestandskunden nicht vernachlässigen und nicht nur auf die Sehanteile der TV-Sender schielen, wie es neue Reality- und Showformate sowie aktuelle Tests von linearen Streams suggerierten. Die Krux für den bisherigen Primus: Er hat weder einen Großhandel wie Amazon hinter sich, noch verfügt er über 100 Jahre Filmerfahrung. Wenn die Konkurrenz mit eigenen Streamingdiensten erst richtig auf Tour kommt, muss der Streamingdienst in den nächsten Jahren deutlich mehr eigene Inhalte produzieren, um die Abonnenten zu halten. Das kostet noch mehr Geld und bekanntlich hat Netflix bisher keinen Gewinn erzielt. Werden die Preise erhöht, wächst das Risiko, die Kunden zu verlieren. Trotz einer großen Marktmacht ist es unsicher, ob Netflix mit der Macht der Hollywood-Studios mithalten kann.

Doch auch für Kinobetreiber – gerade in der aktuellen schwierigen Situation – ist das Ringen der Streamingdienste eine massive Gefahr. „Die Allianz aus Kinobetreibern und Studios besteht nicht mehr wie noch vor fünf Jahren“, stellt dazu Gabriel Mohr, globaler Leiter des Medien Competence Center Arthur D. Little fest. Die Lage sei für die Kinos bedrohlich. Kinobetreiber erlebten derzeit einen perfekten Sturm. Gabriel Mohr geht davon aus, dass man Nachholeffekte sehen werde, sobald ein normaler Alltag und ein regelmäßiger Kinobesuch wieder möglich seien. Man dürfe nicht vergessen, dass das Geschäft mit großen Blockbustern für Betreiber wie Studios nach wie vor extrem lukrativ sei. Das Angebot der großen Streamingplattformen werde sicherlich die Bereitschaft senken, für mittelklassige Filme ins Kino zu gehen. Bei den großen Blockbustern sei dies anders. Die Kinos benötigten aber neue Konzepte, diese Filme auch zu vermarkten.

 

28 Prozent mehr Umsatz der Streamingplattformen in Deutschland

 

Corona hat bei der Mediennutzung für einen Digitalisierungsschub gesorgt. Sehr viel mehr Zeit verbringen die Bundesburger mit Videostreaming. Das Nutzungsvolumen, also die Zeit, die mit gestreamten Inhalten verbracht wurde, stieg nach Angaben der AGF Videoforschung 2020 im Vergleich zu 2019 bei Zuschauern gesamt um 46 Prozent, bei Erwachsenen von 14 bis 49 Jahre um 49,2 Prozent. Die durchschnittliche Sehdauer stieg im Bereich Streaming bei Zuschauern gesamt im Vergleich zu 2019 um 45,7 Prozent, bei Erwachsenen von 14 bis 49 Jahre sogar auf knapp 52 Prozent. Die Streamingzeit hat sich pro Woche fast verdoppelt, von 3,9 Stunden vor Corona auf nun 7,1 Stunden. Dabei ist der Anteil derjenigen, die angeben, Videostreaming gar nicht zu nutzen, von 29 auf 21 Prozent gesunken. Zugleich sagen 8 Prozent, dass sie in der Corona-Zeit 20 Stunden oder mehr pro Woche Videostreaming nutzen – das sind doppelt so viele Heavy Streamer wie noch vor der Corona-Pandemie mit 4 Prozent.

 

Parallel mit der gestiegenen Nutzungszeit der Streamingplattformen ist auch der deutsche Markt für kostenpflichtiges Videostreaming, das sogenannte Pay-VoD, 2020 erneut deutlich gewachsen. Entsprechend positiv entwickeln sich auch die Umsätze: Nach aktuellen Analysen von Goldmedia auf Basis der VoD-Ratings.com haben die Pay-VoD-Anbieter in Deutschland 2020 einen Umsatz von 3 Milliarden Euro erwirtschaftet. 2021 wird ein weiteres Wachstum um 25 Prozent auf dann rund 3,8 Milliarden Euro erwartet.

 

Damit übertrifft das Umsatzvolumen von Netflix und Co. den Markt für lineare Pay-TV-Kanale inzwischen deutlich und nähert sich immer mehr den Erlösen im deutschen Fernsehwerbemarkt.

 

Während die Wirtschaftsleistung in Deutschland insgesamt aufgrund der Corona-Pandemie 2020 um 5 Prozent sank, zählen die Pay-VoD-Anbieter zu den Profiteuren der Krise: Ihr Umsatz von 3 Milliarden Euro im Jahr 2020 entspricht einem Wachstum von 28 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Den größten Anteil haben die abonnementfinanzierten Angebote.

 

Ein radikaler strategischer Umschwung sieht anders aus

 

Die deutschen Streamingangebote, sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen, stehen dazu im Vergleich auf verlorenem Posten. So erreichte die ARD-Mediathek 2020 durchschnittlich 10,165 Millionen Menschen pro Monat und verzeichnet damit die größte Reichweite aller Streamingportale der deutschen Fernsehsender. TVNow, die Mediathek von RTL, vermeldete 1,286 Millionen zahlende Abonnenten und hat die Zahl zum Vorjahr um 64 Prozent gesteigert. Dazu im Vergleich: Netflix hat 7,5 Millionen Abonnenten in Deutschland.

 

„Die deutschen TV-Hauser sind daher gut beraten, die selbst ausgerufene Streamingoffensive umfassend anzugehen– mit allem, was man braucht, um in der Gunst der Zuschauer zu bestehen“., resümiert die Studie „Angriff aus Hollywood!“. Das müsse in einer Ära, in der Hollywood-Konzerne in den deutschen Markt einsteigen und den Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der hiesigen Zuschauer weiter verschärfen, wohl deutlich mehr sein als das, was die TV-Sender bisher boten.

 

Dabei mussten sich die deutschen TV-Sender mit ihren Ausgaben für Content nicht vor den Schwergewichten aus Hollywood und dem Silicon Valley verstecken. So hat die RTL Group im Jahr 2019 beispielsweise weniger als 100 Millionen Euro in Inhalte für die hauseigenen Streamingplattformen investiert – ein Bruchteil der rund 3,5 Milliarden Euro, die das TV-Haus insgesamt für Content ausgegeben hat. Im Vergleich: Amazon stellt seinem Prime-Angebot 5 Milliarden Euro als Budget zur Verfügung, und die globalen Budgets aller neuen Streamingangebote aus Hollywood, einschließlich Disney+, liegen sogar – zum Teil deutlich! – darunter. Auch die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten investieren ihre 8 Milliarden Euro jährlich nach wie vor überwiegend in linear ausgestrahlte Inhalte und überlassen den globalen Plattformen weiterhin das Feld, obwohl insbesondere ARD und ZDF ganz andere Möglichkeiten hatten. „Die TV-Sender verlängern zwar ihre linear ausgestrahlten Inhalte digital, sodass Synergieeffekte entstehen“, stellt die oben genannte Studie fest. „Aber ein radikaler strategischer Umschwung sieht anders aus und wurde eine sehr viel grundlegendere Umverteilung der finanziellen Ressourcen erfordern.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.


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