Heimat, der Nase nach

Gott & die Welt

Wenn ich durch die Eilenriede, den Wald am Rande der südlichen Stadteile in Hannover, gehe, riecht es wie in meiner Kindheit. Und alsbald kriege ich vor Rührung feuchte Augen. Ich finde dieses für mich seltene Erlebnis – vielleicht alle zehn Jahre, dass ich dafür Zeit finde – fast ein wenig verrückt, weil diese Eilenriede nach meinem Eindruck ein Mischwald ist wie vermutlich unzählig viele in Deutschland oder Mitteleuropa, aber anscheinend nimmt die Nase die feinsten olfaktorischen Nuancen wahr und definiert so gewissermaßen diesen Geruch aus Landwehrgraben, gemischtem Baumbestand für mich als Heimat, denn hier, das steigt mir sofort durch die Nase in Hirn und Herz, bin ich einst aufgewachsen. Entwicklungspsychologinnen und Verhaltensforscher können meine Rührung leicht einordnen: Heimat ist im Rückblick nicht zuletzt das erste Bezugssystem, in dem Kinder Orientierung in einer überkomplexen Welt lernen und finden. Bei mir ist dieses Bezugssystem wohl auch olfaktorisch definiert, vermutlich nicht nur bei mir: Heimat gibt es eben auch der Nase nach.

 

Seitdem wir seit ein paar Jahren wieder tiefer unsere Nase in die Fragen von Heimat und Heimatbegriff stecken, bin ich immer mal wieder überrascht. Zum einen, wie hochnäsig mancher über die Heimatgefühle anderer meint urteilen zu sollen. Zum anderen, wie Menschen bisweilen denken, sie müssten Heimat zu Besitz machen und gewissermaßen im Blick auf das Eigene die Nase hoch tragen. Dabei ist doch klar: Zum Leben gehört, dass ich mir – im günstigen Fall willentlich, im ungünstigen Fall gezwungen – viel andere Luft um die Nase wehen lasse. Ich habe Luftveränderungen fast immer als Bereicherung erfahren dürfen. Aber ich weiß sehr wohl: Oft genug ist die raue Luft von Ferne und Fremde nicht gewählt, ist es der Beigeschmack von Flucht oder Vertreibung. Weshalb der Schutz und die Zuflucht ein Grundrecht sind für all jene, die dem Geruch von Tod, Mord und Verfolgung entkommen sind. Das Recht, das unser Zuhause bildet, ist keine Frage von Gutdünken, auch nicht ein schönes Luxusparfüm.

 

Es ist die unverwechselbare Duftmarke einer freiheitlichen Gesellschaft, in der die Spannung von Aufbruch und Zuhause unauflöslich ineinander verflochten bleibt.

 

In der Bibel findet sich diese Spannung immer wieder abgebildet. Erzählt werden Geschichten von Aufbruch, Suche und Sehnsucht. Zwischen fester Burg, sicherer Bleibe und dem Wissen, eben keine bleibende Stadt hier in der Welt zu haben, wird menschliche Existenz beschrieben. Die Spannung von Verwurzelung und Vergänglichkeit wird im Angesicht Gottes radikalisiert, der jüdische Gelehrte und christliche Apostel Paulus spricht von der Heimat vor allem als dem Bürgerrecht, das „wir“ im Himmel haben. Also „bloß“ ferne Verheißung?

 

In den Wintermonaten hat „meine Kindheitseilenriede“ wie jeder Mischwald einen eigentümlichen Geruch von modrigen Blättern, erstorbener, verwesender Natur. Die Nase wird an Werden und Vergehen erinnert. Die Bibel und insbesondere die Erzählungen von Ostern sprechen noch von einem anderen Geruch: dem der Auferstehung. Für die einen Gerücht, für die anderen entscheidender Lebensduft. Und bevor der Verstand etwas begriffen hat, meldet der olfaktorische Sensus: Gott durchweht die Welt. Heimat, der Nase nach.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01-02/2019.

Christian Stäblein
Christian Stäblein ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
Vorheriger ArtikelVon der Kunst, den Leberknödel zu lieben
Nächster ArtikelDas Finden der eigenen Heimat