Von der Kunst, den Leberknödel zu lieben

Heimat – was ist das?

Seit fast 20 Jahren lebe ich nun in Berlin. Ich habe hier Häuser gebaut, Kinder gezeugt, Bäume gepflanzt. Für meine drei Töchter ist es selbstverständlich: Berlin, das ist die Heimat unserer Familie. Dass ich eine andere, eine alte Heimat habe, erschließt sich ihnen nicht von selbst.

 

Wenn ich heute mit dem Zug in meine alte Heimat reise, überkommt mich kurz nach der imaginären Grenze zur Pfalz ein Heißhunger auf Leberknödel, auf diesen tumben Fleischklops mit dunkler Soße und Graubrot. Während meiner Kindheit hat dieser Klops keinerlei Emotionen in mir erzeugt, als ihn meine Großmutter ab und zu auftischte. Heute jedoch verlasse ich flinken Schrittes den Speyrer Bahnhof und wie von selbst sitze ich bald im Schatten des Kaiserdoms in einer Weinstube. Dort gibt es große Tafeln, an denen man neben fremden Menschen Platz nimmt, um viel zu sauren Wein mit einem Spritzer Blubberwasser aus einem viel zu großen Dubbeglas zu trinken. Nach wenigen Augenblicken kommt man ins Gespräch mit den Tischnachbarn, verfällt in den alten Dialekt, verspeist den Leberknödel und fühlt sich angekommen, zu Hause.

 

Zurück in Berlin, sitze ich in meinem neuen Büro, in einem wilhelminischen Gebäude, groß, kalt und mit dicken Mauern. Ich schaue aus dem Fenster und sehe ein Werbebanner für eine Ausstellung: „Lost Heimat“. Kurz denke ich zurück an meinen Leberknödel, auf den ich in Berlin noch nie Appetit hatte. Gleich beginnt meine erste offizielle Sitzung, ein Vernetzungstreffen. Der Deutsche Kulturrat und der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland kommen zusammen, um gemeinsam das Kooperationsprojekt „Heimat und Nachhaltigkeit“ mit Leben zu füllen. Meine Aufgabe wird es sein, in den nächsten zwei Jahren mehrere Veranstaltungen und eine Ideenwerkstatt zu organisieren, um der Frage nach der kulturellen Dimension der Nachhaltigkeitsdebatte nachzugehen. Der Kulturrat und der BUND werden gemeinsam zeigen, dass die aktuellen Debatten um den Begriff „Heimat“ keine rückwärtsgerichteten Diskussionen sind, sondern sich vielmehr um die Zukunftsfrage drehen, in was für einem Land wir leben wollen. Es soll deutlich werden, dass die Nachhaltigkeitsdebatte im Kern eine kulturelle Debatte ist.

 

Die Erde ist im Zeitalter des Anthropozän angelangt. Die Folgen des menschlichen Einwirkens auf den Planeten sind inzwischen relevanter als die natürlichen Einflüsse der letzten 4,5 Milliarden Jahre. Wir Menschen haben Entwicklungen ausgelöst, die die Existenz unseres Heimatplaneten gefährden. Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt, Wassermangel, Abnahme der Rohstoffe, Zunahme der Schadstoffe, und nicht zuletzt die durch Interaktionen der Bereiche nicht kalkulierbaren Kipppunkte des Gesamtsystems. Gelingt es der Menschheit, das Leben innerhalb der planetarischen Grenzen zu organisieren?

 

Ich glaube an die Menschen. Mit unseren intellektuellen Fähigkeiten können wir neue Herausforderungen angehen, auch wenn wir die Folgen der Handlungen noch nicht überblicken können. Unsere kulturelle Kompetenz versetzt uns in die Lage unsere Lebenspraxis zu ändern. Der Klimawandel könnte der Startpunkt für einen grundsätzlichen kulturellen Wandel sein, der die Reduktion von Verschwendung nicht als Verlust, sondern als Gewinn sieht. Es liegt an uns, ein positives Bild zu entwickeln, wie eine ökologisch aufgeklärte Gesellschaft aussehen kann.

 

Dazu brauchen wir die Kultur und vor allem die Künstler, ihre Kreativität, ihre Gestaltungslust, ihre Experimentierfreude und die daraus entstehende Haltung.

 

Denn das Problem der Nachhaltigkeits- und Klimaszene ist doch, dass sie kein Gegenmodell zur aktuellen Konsumgesellschaft haben. Unsere ganzen wirtschaftlichen Grundparameter sind darauf eingestellt, dass immer mehr Emissionen produziert werden, und nicht das Gegenteil davon. Die Alternative ist, darüber nachzudenken, wie wir die Grundbedingung moderner Gesellschaften so verändern können, dass tatsächlich Nachhaltigkeitsstandards erfüllt werden. So hat auch die frühe Ökologiebewegung angefangen. Die hat sich nicht auf Windräder kapriziert, sondern über die Veränderung der Gesellschaft nachgedacht und diese auch gefordert. Wenn wir heuten unseren Blick auf gesellschaftliche Fragen richten, werden wir zu tragfähigen Ideen nur dann kommen, wenn wir uns von der Schwerkraft des Status quo lösen und einfach davon ausgehen, dass alles anders sein könnte. Gesellschaften sind nämlich menschgemacht und menschveränderbar. Wie der Leberknödel, der in Berlin von mir als Königsberger Klopse gekocht und geliebt wird.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2018.

Jens Kober
Jens Kober ist Referent für Nachhaltigkeit und Kultur beim Deutschen Kulturrat.
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