Demokratisierung und Dekolonialisierung

Das Goethe-Institut Brasilien ermöglicht "Echos aus dem Südatlantik"

 

Neben dem physischen Tod beschäftigt sich die Professorin auch mit dem kulturellen Tod, insbesondere der schwarzen Bevölkerung, dem Aussterben von künstlerischen Praktiken, Sprachen und Orten. Berichtet wird von einem Kurator auf der Flucht, weil dessen Ausstellung in einem »Queermuseum« zur Kartografie von Verschiedenheit in der brasilianischen Kunst als „Misshandlung von Kindern und Jugendlichen“ vom Senat der Hauptstadt gebrandmarkt wurde. Ein anderer hat sich ins Exil abgesetzt, weil über seine Performance von rechten Gruppen in sozialen Netzwerken gehetzt wurde und er daraufhin Hass- und Morddrohungen erhielt. Die Liste der aktuellen Übergriffe aus dem politischen Raum auf den kulturellen ist lang. Und schrecklicher Höhepunkt war sicherlich die Ermordung der Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco am 14. März 2018. Als Stadträtin der Sozialistischen Partei hat sie in Rio das Wort als lesbische Afro-Brasilianerin ergriffen, sich für die Bewohner in den Armenvierteln eingesetzt und den männerdominierten Drogengangs den Kampf erklärt. Von Hinrichtung wie zu Zeiten der Militärdiktatur ist die Rede. Es wird offen davon gesprochen, dass die Grenze zwischen organisierter Kriminalität und Sicherheitskräften fließend geworden sei.

 

Arts Rights Justice: Ein Programm

 

Der allseitige Rassismus und die Einschränkungen der Rechte von Künstlern, Journalisten und Wissenschaftlern war auch Thema eines Forschungsateliers im Rahmen des Programms »Arts Rights Jus­tice« des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, das vom Goethe-Institut die Gelegenheit erhielt, vor Ort die zusammenzubringen, die sich in Südamerika um Künstlerresidenzen als »safe haven« kümmern. Dieses kulturpolitische Instrument wurde auf den Prüfstand gestellt und ganz pragmatisch ging es um die Unterstützung von Künstlern aus dem Ausland, die Fragen der Unterbringung und Betreuung, der „Work-Life-Balance“, der Integration in die neue Kulturlandschaft und die Nachhaltigkeit infrastruktureller Rahmenbedingungen. Verfolgte Künstler sollen auch zukünftig in den Künstlerresidenzprogrammen des Goethe-Instituts eine größere Rolle spielen, in Salvador de Bahia wird es die „Vila Sul“ sein, die sich auch als Netzwerk der Zivilgesellschaft zu positionieren beginnt.

 

Goethe-Leiter Manfred Stoffl weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, die Freiheit der Künstler zu verteidigen. Christliche Eiferer bedrohten den international anerkannten Performancekünstler Wagner Schwartz. Mehr als zehnmal hat er allein in Europa „La Bete“ (»Das Tier«) aufgeführt, eine Aktion, bei der er sich nackt auf eine Bühne legt und es den Zuschauern freistellt, seinen Körper in beliebige Positionen zu rücken. Politiker werfen ihm Pädophilie vor, das deutsche Kulturinstitut als Mitveranstalter war vorgeladen bei der Stadt. Es sind die reaktionären Kräfte der Gesellschaft, die alles, was nicht ihrem Weltbild entspricht, verfolgen. „Wir müssen frühzeitig aufpassen“, sagt Stoffl, „denn es beginnt ganz oft mit unauffälliger Zensur und wird immer dreister, Künstler und künstlerische Produktionen unmöglich zu machen.“

 

Revision historischer Narrationen

 

Die Konferenz hat das aufgegriffen und als kulturpolitische Aufgabe definiert. Wer sind wir, wen meinen wir, für wen diskutieren wir? Das muss stets erörtert werden, wenn der globale Norden sich einmischt. Und konkret: Wo waren die Portugiesen, die Spanier und ihre Kulturinstitute? Nada! Manche Begegnungen erwiesen sich als zufällig. Ob sich daraus Projekte ergeben, wird sich zeigen. Aber immerhin bewegen neue Formate den Diskurs, wirken Echos in die alte und die neue Welt, die sich trotz aller nationaler Widrigkeiten international verständigen müssen. Kulturpolitik und ihre Governance gehört dabei ebenso auf die Agenda wie das große Feld der kulturellen Bildung. Letzteres wird im Goethe-Institut noch etwas stiefmütterlich behandelt, da die künstlerischen Prozesse im Mittelpunkt der Förderung stehen. Aber ohne Vermittlung, ohne die Schule der Wahrnehmung, ohne Teilnahme und Teilhabe breiter Bevölkerungskreise werden nachhaltige Entwicklungen in den Kulturbeziehungen nicht zur Entfaltung kommen können. Ein Echo entsteht nur da, wo Reflexionen von Schallwellen als separates Hörergebnis Sender und (!) Empfänger verbinden. „Wir hoffen“, so resümieren die Konferenzveranstalter, „dass die Echos dazu beitragen, eine Revision der Dichotomie in den historischen Narrationen zu ermöglichen, um Demokratisierung und Dekolonialisierung in den Beziehungen der Regionen im Südatlantik zu ermöglichen.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2018

Wolfgang Schneider
Wolfgang Schneider ist Inhaber des UNESCO-Chair in Cultural Policy for the Arts and Development und Mitglied des Steering Committees des Masterstudiengangs "Kulturpolitik und Kulturmanagement" an der Universität Hassan II. in Casablanca.
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