Demokratisierung und Dekolonialisierung

Das Goethe-Institut Brasilien ermöglicht "Echos aus dem Südatlantik"

Auf dem Friedhof Hattensen bei Ottenstein im Herzen des Weserberglandes liegt unter einer alten Linde ein junger Afrikaner begraben. Auf dem Grabstein ist zu lesen: „Hier ruhet Antonio Congo, Sohn eines Afrikanischen Häuptlings, Namens Ambrosio Congo zu Gumbata in Afrika geboren den 12. October 1811 wurde er, 8 Jahre alt, seinen Eltern geraubt und als Sklave nach Brasilien gebracht. Hier kaufte ihn der Hamburger Kaufmann Ferdinand Schlüter, ein edler Mann, der ihn mit nach Hamburg nahm und in der christlichen Region erziehen ließ.“ Die Geschichte markiert Geschichte, nämlich die der Kolonialzeit und des Sklavenhandels. Sie verbindet aber auch die drei Kontinente seit fast 500 Jahren und einen Diskurs über Nord-Süd und neuerdings von Süd-Süd. Eine Konferenz des Goethe-Instituts Brasilien thematisierte diese transatlantischen Beziehungen unter dem Titel „Echoes of the South Atlantic“ und brachte Ende April 2018 Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle in der Hafenstadt Salvador de Bahia zusammen; dort, wo dereinst Antonio Congo auf dem Sklavenmarkt verkauft wurde.

 

„Wie ist der Stand der Dinge im atlantischen Dreieck im 21. Jahrhundert? Welche Impulse gehen von der dortigen Kulturlandschaft aus? Wie wird sich Europa diesbezüglich positionieren?“, fragt Katharina von Ruckteschell-Katte, Direktorin des Goethe-Instituts Sao Paulo und Regionalleiterin für Südamerika. Das Programm will Diskursplattform sein und in den nächsten drei Jahren vor allem künstlerische Projekte generieren, die sich mit den hybriden Kulturen des Lebens auseinandersetzen, transdisziplinär und transregional, um die lange fest fixierten Rollen der drei Kontinente durch Hinterfragen aufzubrechen.

 

Partnerschaft und Partizipation als Parameter

 

Drei Tage wurde ein buntes Kaleidoskop der Verständigung versucht, vor allem die Methodenvielfalt ließ Disparatheit zu, was allerdings nicht immer von produktivem Nutzen war. Neben Vorträgen und Podien gab es »barcamps“, „project labs« und „performances“ sowie eine Ausstellung und ganz wichtig: Zwischenzeiten für den informellen Austausch. Lilia Schwarcz beeindruckte mit einer „Afro-Atlantischen Bild-Geschichte“, analysierte die Ästhetisierung der Sklaverei und machte auf die Geschichten hinter den Zeichnungen und Fotos aufmerksam. Bonaventura Ndikung beschäftigte sich mit dem „Sound“ der „Echoes“, den „Geräuschen der Weißen“ und den „Farben schwarzer Musik“; denn Migration sei allemal auch ein Beitrag für kulturelle Vielfalt.

 

Nanette Snoep, Direktorin der Ethnografischen Museen in Leipzig und Dresden, akzentuierte den Blick auf die Sammlungen der sogenannten Völkerkunde, wie sie von der Ersten Welt im kolonialen Zeitalter bis heutzutage zusammengetragen, wohl eher aber zusammengestohlen wurden. „Ich kann nicht wirklich sehen“, sagt sie, „dass die Echos des Südatlantiks in den Museen in Europa zu sehen sind!“. Provenienzforschung sei deshalb kulturpolitischer Auftrag. Eine Aufgabe sei es, die Objekte zurückzugeben und die Reform der Museen mit einer Multiperspektive auf die Welt anzugehen. Damit war eine der brisantesten Fragen gestellt: Wie soll mit all dem Kulturgut umgegangen werden, das Europa nicht gehört? Kooperationen mit den Museen des globalen Südens anstreben – das war noch die liberalste Antwort – Mut zur Schließung, den Neuanfang wagen, die radikaleren Forderungen. Das ist zwar nicht neu, aber das mit denen zu diskutieren, die ihrer Wurzeln beraubt wurden, mit den Nachfahren aus afrikanischen Ländern, die der Sklaverei zum Opfer gefallen sind, mit ihren afro-brasilianischen Brüdern und Schwestern, das brachte die Konferenz zu einer relevanten Auseinandersetzung. Und dabei ging es nicht nur um die Präsentation von Objekten, ihre Kontextualisierung in Ausstellungen, es ging um Partnerschaft und Partizipation, die neuen Parameter im internationalen Kulturaustausch.

 

Die Kunst als „Akt der Emanzipation“

 

„Wir von beiden Seiten des Atlantiks“ war eine immer wiederkehrende Aussage der Akteure aus Afrika und Südamerika und sie machte eine Solidarität deutlich, die auch die Rolle des Veranstalters infrage stellte. Denn noch vor Kurzem wurde in Brasilien mit einem Deutschlandjahr die klassische Auswärtige Kulturpolitik betrieben, nämlich mittels Export; noch immer sind Kulturbeziehungen von wirtschaftlichem Interesse geprägt und das Goethe-Institut als Mittlerorganisation ist auch weiterhin der Außenpolitik verpflichtet. Die Unabhängigkeit der Künstler, insbesondere jener, denen eine Förderung aus Europa zuteil wird, ist aber ein „conditio sine qua non“, denn die Freiheit der Kunst ist gerade auch in Deutschland ein hohes Gut. So erzählen die Künstler der Konferenz von ihrer Arbeit mit indigenen Gruppen, mit den Unterprivilegierten, mit sozialem Anspruch, zur Community Building, im ländlichen Raum, mit ökologischen und nachhaltigen Ansätzen. Anita Ekman, Visual- und Performancekünstlerin, Illustratorin und Forscherin aus Rio de Janeiro, nennt sich und ihresgleichen „Kulturarbeiter“ und ihre Kunst einen „Akt der Emanzipation“. Das verbiete nicht die Zusammenarbeit mit internationalen Kultureinrichtungen, aber nur, wenn diese respektvoll und reflektiert diese als „Fair Cooperation“ verstehen.

 

So kämpfen die Akteure von beiden Seiten des Atlantiks nicht nur mit den Auswüchsen des Neokolonialismus von außen, sondern auch zunehmend mit Gewalt, Zensur und Verfolgung im Innern. Meinungsfreiheit sowie die Freiheit von Kunst und Wissenschaft sind in vielen Ländern am Südatlantik gefährdet. Elisa Nascimento vom Afro-Brasilianischen Forschungsinstitut spricht sogar vom Genozid an der schwarzen Bevölkerung; denn fünf Millionen Schwarze seien via Salvador nach Brasilien verschleppt worden, fast die Hälfte der versklavten Afrikaner. Das sei Geschichte, die Realität aber nicht viel besser: Brasilien ist das Land mit der höchsten Mordrate in der Welt. Mit Zahlen und Fakten unter anderem von Amnesty International klärt sie auf: 30.000 Tote im Jahr, sieben alle zwei Stunden, aber nur eine lächerliche Aufklärungsquote von fünf Prozent.

Wolfgang Schneider
Wolfgang Schneider ist Inhaber des UNESCO-Chair in Cultural Policy for the Arts and Development und Mitglied des Steering Committees des Masterstudiengangs "Kulturpolitik und Kulturmanagement" an der Universität Hassan II. in Casablanca.
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