Europa ist Rückhalt, Richtung und Traum

Literatur in Litauen

„Europa ist Rückhalt, Richtung und Traum“, schrieb der litauische Schriftsteller und Regisseur Marius Ivaškevičius in einem Essay am 6. Februar 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In diesem Frühjahr feierte Litauen zusammen mit Lettland und Estland den 100. Geburtstag seiner Unabhängigkeit – mit Staatsakten, Fahnen, Feuerwerk und hunderten Programmen. Passen nationales Pathos und landesweit zelebrierter Patriotismus mit dem europäischen Gedanken zusammen? Widerspricht nicht das eine dem anderen? Wie problemlos sich nationaler und europäischer Patriotismus in Litauen und seinen angrenzenden baltischen Nachbarländern ineinanderfügen, versteht man mit einem Blick in die litauische Geschichte. Als am 16. Februar 1918 die Unabhängigkeitserklärung Litauens unterzeichnet wurde, war dies auch ein Sieg der litauischen „Bücherschmuggler“ und Schlusspunkt unter einem 50-jährigen Kulturkampf gegen zaristische Okkupation. Seit dem Jahr 1864 und dem gescheiterten litauisch-polnischen Aufstand hatte die zaristische Polizei die Bestände litauischer Museen und Bibliotheken nach Moskau und St. Petersburg geschafft, hatte den Gebrauch der litauischen Sprache und die Anwendung der lateinischen Schrift untersagt und Druck und Besitz litauischer Bücher bei Strafe verboten. Daraufhin ließ Bischof Motiejus Valančius litauischsprachige Bücher in einer Königsberger Druckerei des benachbarten Preußen drucken und in Gemüsefuhren, Särgen und Schnapskanistern über die Grenzen schmuggeln. Schmuggler, die man erwischte, wurden ausgepeitscht, verbannt oder erhielten fünf Jahre Gefängnis. Nicht wenige wurden erschossen, insgesamt 2.500 Buchschmuggler wurden bestraft. Aber fünf Millionen Bücher gingen Dank dieser „Graswurzelbewegung“ ihren Weg. Geschmuggelt wurden erst religiöse Texte und Liederbücher, dann Handbücher, Romane, philosophische Traktate, Gedichtbände – jedoch alles in litauischer Sprache. So wurde das Litauische durch die Zeit der Okkupation hindurch am Leben erhalten und an die nächste Generation weitergegeben. 100 heimliche Schulen hatte Bischof Motiejus Valančius ins Leben gerufen, um gegen Analphabetismus und Langeweile anzugehen und damit auch gegen den grassierenden Alkoholismus, denn das eine stand in ursächlicher Verbindung mit dem anderen. Motiejus Valančius, dem Gründer der Bewegung, sind Denkmäler gesetzt, Straßen sind nach der Bücherschmuggel-Bewegung benannt und der 16. März wird in Litauen als Tag der Bücherschmuggler gefeiert. Besucht man die litauische Buchmesse in Vilnius, zu der alljährlich rund 67.000 Menschen anreisen, so fallen einem die Bücherberge mit ihren litauischen und internationalen Neuerscheinungen ins Auge, alles in litauischer Sprache. Wer wird das alles lesen?, fragt man sich unwillkürlich und bekommt die Antwort am Ausgang, wo Litauer Einkaufswagen voller Bücher in ihre Autos verfrachten – auf der Buchmesse gibt es hohe Kaufrabatte. Bei 3.410 neuen Buchtiteln in litauischer Sprache für eine Einwohnerschaft von 2,9 Millionen erscheinen in Litauen – proportional betrachtet – rund 20 Prozent mehr Neuerscheinungen als auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Litauer haben eine besondere Beziehung zu ihrer Sprache, wohl weil man so lange versuchte, sie ihnen wegzunehmen. Liegt es an der Schwierigkeit der Sprache(n), dass man im Westen Europas so relativ wenig vom baltischen Osten kennt und versteht? Es ist ganz Mittelosteuropa, von dem man wenig weiß, angefangen mit Polen. Der soeben erschienene, tief in die mittelosteuropäischen Grenzländer vorstoßende Reisebericht Navid Kermanis „Entlang den Gräben“ schreibt am Anfang in entwaffnender Ehrlichkeit: „Peinlich es zu gestehen, aber ich war noch nie in Polen“. Die gegenseitigen Kenntnisse von Ost und West wachsen langsam. Zu wissen, was die jeweils andere Seite liest und anschaut, was sie prägt und begeistert, wovon sie träumt und was sie langweilt, kann man nicht anordnen, aber man kann es ermöglichen. Investitionserleichterungen für Verlage bei verlegerischen Risiken spielen eine wichtige Rolle. Was das litauische Kulturinstitut mit seiner Übersetzungsförderung leistet, ist grandios. 60 litauische Buchtitel werden jährlich in andere Sprachen übersetzt, davon die Hälfte mit Übersetzungsförderungen bis zu 100 Prozent. Übersetzt wird in fast 40 Sprachen, allen voran ins Polnische, Russische, Englische, Lettische und Deutsche. Zur Frankfurter Buchmesse 2002 wurden fünf litauische Bücher von deutschen Verlagen herausgegeben, zur Leipziger Buchmesse 2017 – beide Male war Litauen Gastland – waren es bereits 26 Titel. Zur Londoner Buchmesse 2018 werden 16 litauische Titel in englischen Verlagen erscheinen, allen voran Kinderbuchautor und -illustrator Kestutis Kasparavčius sowie die Schriftsteller Tomas Venclova und Grigori Kanowitsch. Die in Litauen kulturpolitisch wichtigste Entscheidungsinstanz ist das Kulturministerium. Es setzt die kulturpolitischen Prioritäten etwa die wichtige Förderung von Kultur in der Provinz, es formuliert Programmlinien wie Beiträge zu „100 Jahre Litauen“ und es organisiert zentral die Zuteilung der Gelder. Die Zuwendungen sind projektbasiert, zweimal im Jahr können sich die nationalen Institutionen in Konkurrenz untereinander und gegen freie Gruppen um Anteile des Budgets bewerben. Das zu verteilende Geld stammt aus der Tabak- und Alkoholsteuer und betrug zwischen 2014 und 2017 61 Millionen Euro. Der Verteilungsprozess ist mit Bedacht aus der Tages- und Parteipolitik herausgenommen. Die Entscheidung liegt bei einem gewählten überparteilichen Kulturrat aus Persönlichkeiten des Kulturlebens. Bei jährlich über 26.000 Projektanträgen müssen diese entscheidungsfähig aufbereitet werden, Teams von wechselnden Experten arbeiten die Anträge durch und bewerten sie entsprechend den kulturpolitisch gesetzten Kriterien. Nationale Institutionen wie Kunstmuseen, Nationaltheater und Nationalbibliothek, Oper und Philharmonie, öffentlicher Rundfunk und Fernsehen können über Eintrittsgelder und Tourneehonorare frei verfügen, erhalten auch Grundbudgets für Gehälter und Gebäudeunterhalt, müssen aber für die einzelnen Inszenierungen und Ausstellungen einzeln beantragen. Zu den Ergebnissen einer langfristig kulturpolitischen Setzung gehört, dass sich Litauen eines der weltweit dichtesten Bibliotheksnetze erhalten hat. Es kommt in Litauen auf 1.146 Einwohner eine Bibliothek, in Deutschland müssen sich 5.770 Einwohner eine Bibliothek teilen.

 

„In den vergangenen 20 Jahren“, schreibt der eingangs genannte Marius Ivaškevičius, „hat Litauen ungefähr zwanzig Prozent seiner Einwohner verloren, ungefähr so viele Menschen sind aus Litauen emigriert. Ein Fünftel. Das ist im Alltag spürbar. Das ist so, als würden plötzlich 16 Millionen Menschen aus Deutschland weggehen oder je 12 Millionen aus Frankreich oder Großbritannien“. Sich der Abwanderung der Menschen entgegenzustemmen, ist eine der obersten kulturpolitischen Zielsetzungen. „Was bezeichnet ihr als Heimat?“, fragen die Frauen von She She Pop, Berlin in ihrem semidokumentarischen Stück „Schubladen“. „Heimat ist da, wo die Rechnungen ankommen, es ist da, wo der Briefkasten ist.“ Das litauische Durchschnittseinkommen, aus dem man seine Rechnungen bezahlt, beträgt 706 Euro, das durchschnittliche Einkommen in der EU liegt bei 2.634 Euro. Was Litauen mehr braucht, sind vernünftig bezahlte Jobs. Dass die Truppe She She Pop nach Litauen kommen möge, steht auf der Wunschliste junger litauischer Theatermacher ganz oben. Den litauischen Theaternachwuchs fasziniert das dokumentarische Theater. Wie man gesellschaftliche Transformationen mit Experten der Wirklichkeit abbildet, wird gerne und gemeinsam mit deutschen Theaterleuten diskutiert und in Koproduktionen bearbeitet. Die litauischen Theater haben eine Auslastung zwischen 80 und 95 Prozent und sind international erfolgreich. Ein Regisseur wie Oskaras Koršunovas tourt mit seinen Inszenierungen durch die Welt, darunter einmal jährlich nach China. Die Traumata von Holocaust und Deportation, die aus verbotener Trauerarbeit resultierenden seelischen Verletzungen, die Fragen von Identität, Heimat und Heimatverlust, aber auch der Irrwitz gesellschaftlicher Transformationsprozesse werden auf den Bühnen mit einer Insistenz und Intensität bearbeitet, die es so nur noch im deutschen und polnischen Theater gibt. Was hier das Goethe-Institut beiträgt? Theater-Kooperationen befördern, ästhetisch wegweisende Inszenierungen ins Land holen, den Themen Heimat und Heimatverlust in Film, Literatur und Bildender Kunst nachspüren, das Thema Arbeit dokumentarisch vertiefen und zum Thema Europa solche Denker einladen, die es an entscheidender Stelle diskutieren. Navid Kermani, Claus Leggewie und Alexander Kluge waren schon da. „Europa verkörpert Menschenwürde, den Dienst der Staatsmacht am Menschen (und nicht umgekehrt), eine saubere Justiz, eine Politik, die nicht korrupt ist“, schrieb Marius Ivaškevičius 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Und endete mit den Worten: „Ich wüsste nicht, wie ich ohne Europa weiterleben sollte“.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2018

Detlef M. Gericke
Detlef M. Gericke leitet das Goethe-Institut Litauen.
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