Wolfgang Schneider - 6. November 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Demokratisierung und Dekolonialisierung


Das Goethe-Institut Brasilien ermöglicht "Echos aus dem Südatlantik"

Auf dem Friedhof Hattensen bei Ottenstein im Herzen des Weserberglandes liegt unter einer alten Linde ein junger Afrikaner begraben. Auf dem Grabstein ist zu lesen: „Hier ruhet Antonio Congo, Sohn eines Afrikanischen Häuptlings, Namens Ambrosio Congo zu Gumbata in Afrika geboren den 12. October 1811 wurde er, 8 Jahre alt, seinen Eltern geraubt und als Sklave nach Brasilien gebracht. Hier kaufte ihn der Hamburger Kaufmann Ferdinand Schlüter, ein edler Mann, der ihn mit nach Hamburg nahm und in der christlichen Region erziehen ließ.“ Die Geschichte markiert Geschichte, nämlich die der Kolonialzeit und des Sklavenhandels. Sie verbindet aber auch die drei Kontinente seit fast 500 Jahren und einen Diskurs über Nord-Süd und neuerdings von Süd-Süd. Eine Konferenz des Goethe-Instituts Brasilien thematisierte diese transatlantischen Beziehungen unter dem Titel „Echoes of the South Atlantic“ und brachte Ende April 2018 Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle in der Hafenstadt Salvador de Bahia zusammen; dort, wo dereinst Antonio Congo auf dem Sklavenmarkt verkauft wurde.

 

„Wie ist der Stand der Dinge im atlantischen Dreieck im 21. Jahrhundert? Welche Impulse gehen von der dortigen Kulturlandschaft aus? Wie wird sich Europa diesbezüglich positionieren?“, fragt Katharina von Ruckteschell-Katte, Direktorin des Goethe-Instituts Sao Paulo und Regionalleiterin für Südamerika. Das Programm will Diskursplattform sein und in den nächsten drei Jahren vor allem künstlerische Projekte generieren, die sich mit den hybriden Kulturen des Lebens auseinandersetzen, transdisziplinär und transregional, um die lange fest fixierten Rollen der drei Kontinente durch Hinterfragen aufzubrechen.

 

Partnerschaft und Partizipation als Parameter

 

Drei Tage wurde ein buntes Kaleidoskop der Verständigung versucht, vor allem die Methodenvielfalt ließ Disparatheit zu, was allerdings nicht immer von produktivem Nutzen war. Neben Vorträgen und Podien gab es »barcamps“, „project labs« und „performances“ sowie eine Ausstellung und ganz wichtig: Zwischenzeiten für den informellen Austausch. Lilia Schwarcz beeindruckte mit einer „Afro-Atlantischen Bild-Geschichte“, analysierte die Ästhetisierung der Sklaverei und machte auf die Geschichten hinter den Zeichnungen und Fotos aufmerksam. Bonaventura Ndikung beschäftigte sich mit dem „Sound“ der „Echoes“, den „Geräuschen der Weißen“ und den „Farben schwarzer Musik“; denn Migration sei allemal auch ein Beitrag für kulturelle Vielfalt.

 

Nanette Snoep, Direktorin der Ethnografischen Museen in Leipzig und Dresden, akzentuierte den Blick auf die Sammlungen der sogenannten Völkerkunde, wie sie von der Ersten Welt im kolonialen Zeitalter bis heutzutage zusammengetragen, wohl eher aber zusammengestohlen wurden. „Ich kann nicht wirklich sehen“, sagt sie, „dass die Echos des Südatlantiks in den Museen in Europa zu sehen sind!“. Provenienzforschung sei deshalb kulturpolitischer Auftrag. Eine Aufgabe sei es, die Objekte zurückzugeben und die Reform der Museen mit einer Multiperspektive auf die Welt anzugehen. Damit war eine der brisantesten Fragen gestellt: Wie soll mit all dem Kulturgut umgegangen werden, das Europa nicht gehört? Kooperationen mit den Museen des globalen Südens anstreben – das war noch die liberalste Antwort – Mut zur Schließung, den Neuanfang wagen, die radikaleren Forderungen. Das ist zwar nicht neu, aber das mit denen zu diskutieren, die ihrer Wurzeln beraubt wurden, mit den Nachfahren aus afrikanischen Ländern, die der Sklaverei zum Opfer gefallen sind, mit ihren afro-brasilianischen Brüdern und Schwestern, das brachte die Konferenz zu einer relevanten Auseinandersetzung. Und dabei ging es nicht nur um die Präsentation von Objekten, ihre Kontextualisierung in Ausstellungen, es ging um Partnerschaft und Partizipation, die neuen Parameter im internationalen Kulturaustausch.

 

Die Kunst als „Akt der Emanzipation“

 

„Wir von beiden Seiten des Atlantiks“ war eine immer wiederkehrende Aussage der Akteure aus Afrika und Südamerika und sie machte eine Solidarität deutlich, die auch die Rolle des Veranstalters infrage stellte. Denn noch vor Kurzem wurde in Brasilien mit einem Deutschlandjahr die klassische Auswärtige Kulturpolitik betrieben, nämlich mittels Export; noch immer sind Kulturbeziehungen von wirtschaftlichem Interesse geprägt und das Goethe-Institut als Mittlerorganisation ist auch weiterhin der Außenpolitik verpflichtet. Die Unabhängigkeit der Künstler, insbesondere jener, denen eine Förderung aus Europa zuteil wird, ist aber ein „conditio sine qua non“, denn die Freiheit der Kunst ist gerade auch in Deutschland ein hohes Gut. So erzählen die Künstler der Konferenz von ihrer Arbeit mit indigenen Gruppen, mit den Unterprivilegierten, mit sozialem Anspruch, zur Community Building, im ländlichen Raum, mit ökologischen und nachhaltigen Ansätzen. Anita Ekman, Visual- und Performancekünstlerin, Illustratorin und Forscherin aus Rio de Janeiro, nennt sich und ihresgleichen „Kulturarbeiter“ und ihre Kunst einen „Akt der Emanzipation“. Das verbiete nicht die Zusammenarbeit mit internationalen Kultureinrichtungen, aber nur, wenn diese respektvoll und reflektiert diese als „Fair Cooperation“ verstehen.

 

So kämpfen die Akteure von beiden Seiten des Atlantiks nicht nur mit den Auswüchsen des Neokolonialismus von außen, sondern auch zunehmend mit Gewalt, Zensur und Verfolgung im Innern. Meinungsfreiheit sowie die Freiheit von Kunst und Wissenschaft sind in vielen Ländern am Südatlantik gefährdet. Elisa Nascimento vom Afro-Brasilianischen Forschungsinstitut spricht sogar vom Genozid an der schwarzen Bevölkerung; denn fünf Millionen Schwarze seien via Salvador nach Brasilien verschleppt worden, fast die Hälfte der versklavten Afrikaner. Das sei Geschichte, die Realität aber nicht viel besser: Brasilien ist das Land mit der höchsten Mordrate in der Welt. Mit Zahlen und Fakten unter anderem von Amnesty International klärt sie auf: 30.000 Tote im Jahr, sieben alle zwei Stunden, aber nur eine lächerliche Aufklärungsquote von fünf Prozent.

 

Neben dem physischen Tod beschäftigt sich die Professorin auch mit dem kulturellen Tod, insbesondere der schwarzen Bevölkerung, dem Aussterben von künstlerischen Praktiken, Sprachen und Orten. Berichtet wird von einem Kurator auf der Flucht, weil dessen Ausstellung in einem »Queermuseum« zur Kartografie von Verschiedenheit in der brasilianischen Kunst als „Misshandlung von Kindern und Jugendlichen“ vom Senat der Hauptstadt gebrandmarkt wurde. Ein anderer hat sich ins Exil abgesetzt, weil über seine Performance von rechten Gruppen in sozialen Netzwerken gehetzt wurde und er daraufhin Hass- und Morddrohungen erhielt. Die Liste der aktuellen Übergriffe aus dem politischen Raum auf den kulturellen ist lang. Und schrecklicher Höhepunkt war sicherlich die Ermordung der Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco am 14. März 2018. Als Stadträtin der Sozialistischen Partei hat sie in Rio das Wort als lesbische Afro-Brasilianerin ergriffen, sich für die Bewohner in den Armenvierteln eingesetzt und den männerdominierten Drogengangs den Kampf erklärt. Von Hinrichtung wie zu Zeiten der Militärdiktatur ist die Rede. Es wird offen davon gesprochen, dass die Grenze zwischen organisierter Kriminalität und Sicherheitskräften fließend geworden sei.

 

Arts Rights Justice: Ein Programm

 

Der allseitige Rassismus und die Einschränkungen der Rechte von Künstlern, Journalisten und Wissenschaftlern war auch Thema eines Forschungsateliers im Rahmen des Programms »Arts Rights Jus­tice« des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, das vom Goethe-Institut die Gelegenheit erhielt, vor Ort die zusammenzubringen, die sich in Südamerika um Künstlerresidenzen als »safe haven« kümmern. Dieses kulturpolitische Instrument wurde auf den Prüfstand gestellt und ganz pragmatisch ging es um die Unterstützung von Künstlern aus dem Ausland, die Fragen der Unterbringung und Betreuung, der „Work-Life-Balance“, der Integration in die neue Kulturlandschaft und die Nachhaltigkeit infrastruktureller Rahmenbedingungen. Verfolgte Künstler sollen auch zukünftig in den Künstlerresidenzprogrammen des Goethe-Instituts eine größere Rolle spielen, in Salvador de Bahia wird es die „Vila Sul“ sein, die sich auch als Netzwerk der Zivilgesellschaft zu positionieren beginnt.

 

Goethe-Leiter Manfred Stoffl weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, die Freiheit der Künstler zu verteidigen. Christliche Eiferer bedrohten den international anerkannten Performancekünstler Wagner Schwartz. Mehr als zehnmal hat er allein in Europa „La Bete“ (»Das Tier«) aufgeführt, eine Aktion, bei der er sich nackt auf eine Bühne legt und es den Zuschauern freistellt, seinen Körper in beliebige Positionen zu rücken. Politiker werfen ihm Pädophilie vor, das deutsche Kulturinstitut als Mitveranstalter war vorgeladen bei der Stadt. Es sind die reaktionären Kräfte der Gesellschaft, die alles, was nicht ihrem Weltbild entspricht, verfolgen. „Wir müssen frühzeitig aufpassen“, sagt Stoffl, „denn es beginnt ganz oft mit unauffälliger Zensur und wird immer dreister, Künstler und künstlerische Produktionen unmöglich zu machen.“

 

Revision historischer Narrationen

 

Die Konferenz hat das aufgegriffen und als kulturpolitische Aufgabe definiert. Wer sind wir, wen meinen wir, für wen diskutieren wir? Das muss stets erörtert werden, wenn der globale Norden sich einmischt. Und konkret: Wo waren die Portugiesen, die Spanier und ihre Kulturinstitute? Nada! Manche Begegnungen erwiesen sich als zufällig. Ob sich daraus Projekte ergeben, wird sich zeigen. Aber immerhin bewegen neue Formate den Diskurs, wirken Echos in die alte und die neue Welt, die sich trotz aller nationaler Widrigkeiten international verständigen müssen. Kulturpolitik und ihre Governance gehört dabei ebenso auf die Agenda wie das große Feld der kulturellen Bildung. Letzteres wird im Goethe-Institut noch etwas stiefmütterlich behandelt, da die künstlerischen Prozesse im Mittelpunkt der Förderung stehen. Aber ohne Vermittlung, ohne die Schule der Wahrnehmung, ohne Teilnahme und Teilhabe breiter Bevölkerungskreise werden nachhaltige Entwicklungen in den Kulturbeziehungen nicht zur Entfaltung kommen können. Ein Echo entsteht nur da, wo Reflexionen von Schallwellen als separates Hörergebnis Sender und (!) Empfänger verbinden. „Wir hoffen“, so resümieren die Konferenzveranstalter, „dass die Echos dazu beitragen, eine Revision der Dichotomie in den historischen Narrationen zu ermöglichen, um Demokratisierung und Dekolonialisierung in den Beziehungen der Regionen im Südatlantik zu ermöglichen.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2018


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