Von Stieren und Menschenpyramiden

Spanien: Kultur im Land des Regionalismus

I n der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes sucht man den Stierkampf vergeblich, stattdessen findet man die gepfiffene Sprache auf Gomera – genannt „silbo gomero“ –, den Flamenco und die Castellers, die katalanischen Menschenpyramiden. Der Stierkampf hingegen wurde, nachdem Spanien mit seinem Antrag, ihn in die Welterbeliste aufnehmen zu lassen, gescheitert war, ersatzweise zum nationalen Kulturgut erklärt.

 

Für die katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter hat das eine symbolische Bedeutung: hier der blutige Kampf mit ungleichen Waffen geführt, der tödlich endet. Dort der ebenso gewagte wie kunstvolle Turm aus Menschen, der nur im genau abgestimmten Zusammenspiel aller Beteiligten gelingen kann und zum Sinnbild für friedliche Kooperation wird.

 

Hierin ein Indiz für die unüberwindlichen kulturellen und mentalen Gegensätze zwischen den Katalanen und den übrigen Spaniern zu sehen, ist nur eine der vielen Erzählungen, die den Kitt des Katalanismus darstellen. Man fragt sich aber, wer „die Spanier“ eigentlich sind, wenn die meisten Bewohnerinnen und Bewohner dieses Teils der Iberischen Halbinsel sich zuallererst als Basken, Galicier, Andalusier oder Mallorquiner verstehen.

 

In der etwas klamaukhaften, aber sehr aufschlussreichen Komödie „8 katalanische Familiennamen“ von Emilio Martínez-Lázaro (2015) befindet sich der Baske Koldo im Zug auf dem Weg von Sevilla nach Barcelona. In Madrid muss er den Zug wechseln, weigert sich aber, auszusteigen. Es tue ihm leid, aber es sei ihm unmöglich, den Boden von Madrid zu betreten. Das habe er sich geschworen, das sei nicht verhandelbar. Also trägt ihn sein Begleiter Huckepack durch den Bahnhof: Die Reise kann fortgesetzt werden, der Baske Koldo ist seinem Gelübde treu geblieben.

 

Kultur in Spanien ist vor allem die Summe aus unzähligen lokalen und regionalen Bräuchen, die weit mehr sind als nur Folklore und in denen sich die Identitäten spiegeln, die zu allererst regional und dann – wenn überhaupt – national sind.

 

Was nach fröhlich bunter Vielfalt klingt, ist gleichzeitig auch ein Grund für die schwierige politische Situation in diesem Land am Rande Europas: Nach der jahrzehntelangen Unterdrückung des Regionalismus und der Sprachen während der Diktatur Francisco Francos durften nach der Rückkehr zur Demokratie Galicisch, Baskisch und Katalanisch wieder offiziell gesprochen und unterrichtet werden. Von vielen wird der „Nationalstaat“ bis heute als Erbe des Franquismus und damit als Feind der regionalen Identität begriffen. Der starke regionale Bezug spiegelt sich auch in der Kulturförderung wider, die nur zu 15 Prozent vom Staat kommt und vor allem lokal mit 55 Prozent und regional mit 30 Prozent geprägt ist. Nachdem z. B. Barcelona in den 1990er Jahren als Stadt der Avantgarde im performativen Bereich galt, hat die starke Konzentration auf die Förderung des katalanischen Sprechtheaters dort zu einer gewissen Provinzialisierung des Kulturlebens geführt. So erfolgt die Untertitelung bei einem Gastspiel der Schaubühne im Rahmen eines internationalen Festivals, das traditionell von vielen lateinamerikanischen Festivalmachern besucht wird, ausschließlich auf Katalanisch.

 

Ein reformbedürftiges Verfahren der Länderfinanzierung führt dazu, dass sich die „Autonomien“ nicht nur gegenüber dem Zentralstaat, sondern auch untereinander behaupten müssen. All dies führt zu einer eher heterogenen Kulturlandschaft, die nichtsdestotrotz einen faszinierenden Reichtum aufweist.

 

Von Autonomiebestreben liest man auch bei unseren Kollegen des Instituto Cervantes: Das Goethe-Institut war und ist in seiner eher unabhängigen Konstruktion immer noch Vorbild des Instituto Cervantes und mit der neuen Regierung wird wieder der Ruf nach der Abkopplung vom Außenministerium laut.

 

Aber anders als in anderen europäischen Ländern hat Europa in Spanien einen hohen Identifikationswert, selbst in den nach Unabhängigkeit strebenden Autonomien. Die kulturellen Verbindungen nach Deutschland spielen dabei eine große Rolle. So konnte man über viele Jahre in Spanien als Jurist nur Karriere machen, wenn man in Deutschland Jura studiert hatte. Kulturmetropolen wie Berlin, Hamburg oder München sind heute wichtige Bezugspunkte für spanische Künstlerinnen und Künstler. Alle wichtigen Kulturinstitutionen und Festivals laden regelmäßig deutsche Produktionen nach Spanien ein und pflegen den internationalen Austausch.

 

Die Krise, die 2012 Spanien besonders hart getroffen hat, bedeutete für das kulturelle Leben, das sich mit Rückkehr zur Demokratie wieder zunehmend auf der internationalen Bühne zurückgemeldet hatte, einen empfindlichen Rückschlag. Der reduzierte Mehrwertsteuersatz für Kultur wurde von acht Prozent auf 21 Prozent angehoben. In der Folge gingen die Besucherzahlen in Kinos, Theatern und Konzerten zurück, auch die Subventionen für Museen, Theater und Festivals wurden eingestellt.

 

Die große Entfremdung zwischen Zentralregierung und den Regionen zeigte sich auch im Umgang mit der Flüchtlingskrise. Bei den Kommunalwahlen 2015 hatten in den großen Städten – Madrid, Barcelona, Valencia – politische Gruppierungen gewonnen, die sich aus der Aktivistenszene und der Podemos-Bewegung formiert hatten. Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister erklärten ihre Städte zu offenen Städten, in denen Flüchtlinge willkommen sind – „Refugees welcome“ verkündeten große Transparente an den Rathäusern. Nur die Zentralregierung unter Mariano Rajoy spielte nicht mit und beteiligte sich nicht an der europäischen Verteilung. Das Goethe-Institut Barcelona griff das Thema mit der mehrtägigen Konferenz „Right to move“ auf, die die Vielzahl der Initiativen zur Unterstützung von Migration sowie ihre internationale Vernetzung zeigte.

 

Unter der neuen Regierung des Sozialisten Pedro Sanchez scheint ein frischer Wind aufzukommen. Seit Italien den Flüchtlingsschiffen den Zugang zu seinen Häfen verwehrt, lässt die empathischere Haltung der neuen Regierung eine Öffnung Spaniens für einen Teil der Migrationsströme zu.

 

Auch innenpolitisch werden heiße Eisen angefasst: Die längst überfällige Auseinandersetzung mit der Franco-Zeit ist wieder Tagesthema in den Zeitungen. Der Beschluss, die Überreste Francos aus dem Monumentaldenkmal im „Valle de los Caídos“ zu exhumieren, ist von großer symbolischer Bedeutung. Die Hoffnung auf eine offenere Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte beflügelt derzeit den intellektuellen Diskurs, in dem nicht zuletzt auch das Goethe-Institut gefragt ist – beruht unser guter Ruf in Spanien doch auch auf unserer Rolle in der spanischen Diktatur, als zentraler Ort freien Diskurses.

 

Der neue Kultusminister José Guirao – der unter anderem Leiter des wichtigen Museums Reina Sofia war – ist Hoffnungsträger einer kulturpolitisch neu akzentuierten Politik des Landes, die in der Krise durch enorme Kürzungen nachhaltig sehr gelitten hat. Es fehlt nach wie vor an einem rechtlichen Rahmen für eine privatwirtschaftliche Kulturförderung und auch der Wegfall des reduzierten Steuersatzes für Eintritte bei Kulturveranstaltungen erweist sich als kontraproduktiv, auch wenn Kultur als ein Grundrecht gilt.

 

Die Kunstszene Spaniens hat ihr Herz in Madrid. Hier sind die Galerien, Sammlungen, Stiftungen, großen Museen und Messen verortet. Hinzu kommen viele Off-Spaces in ehemaligen Industriegebäuden wie im alten Schlachthof Matadero, in einer alten Kasernenanlage Conde Duque oder in der alten Tabakfabrik Tabakalera. Internationale Positionen sind gefragt und prägen die Ausstellungslandschaft.

 

Für das Goethe-Institut eröffnen sich hier viele Kooperationsmöglichkeiten, sei es mit dem Museo Reina Sofia, mit dem wir im vergangenen Jahr eine große Ausstellung von Franz Erhard Walther zeigen konnten, oder der „Photo España“, ein Großprojekt, das alljährlich Madrid in die größte Fotogalerie Spaniens verwandelt und wo das Goethe-Institut regelmäßig zeitgenössische Positionen beisteuert. Aber auch internationale Künstlerresidenzen gewinnen zunehmend an Attraktivität und Bedeutung in den Programmen lokaler und regionaler Kulturinstitutionen.

 

In Barcelona, Sitz des Sekretariats der Union für das Mittelmeer, ist man den kulturellen Basisbewegungen in Nordafrika sehr verbunden, wie das junge Festival „Africa Moment“ zeigt. Zugleich gibt es eine intensive Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit, viele Plätze und Straßen wurden bereits in öffentlichen Akten umbenannt.

 

In diesem Spannungsfeld der Regionen, der emblematischen Kulturinstitutionen und der vielen zivilgesellschaftlichen und kommunitarischen Initiativen ist und bleibt die Arbeit des Goethe-Instituts in Spanien eine inspirierende Herausforderung.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2018

Reinhard Maiworm und Judith Maiworm
Reinhard Maiworm leitet das Goethe-Institut in Madrid. Judith Maiworm ist Institutsleiterin am Goethe-Institut Barcelona.
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