Berufliche Bildung stärken

Bildung und Forschung in der aktuellen Legislaturperiode

Als ich kürzlich das Hannah-Arendt-Gymnasium in Lengerich besuchte, das ganz in der Nähe meiner Heimatstadt Tecklenburg liegt, da war nach einer kleinen Umfrage unter den Oberstufenschülern schnell klar: Alle wollen wie selbstverständlich studieren. Nun will ich nicht behaupten, dass in Deutschland grundsätzlich zu viel studiert wird, aber dass es einen starken Drang zur Universität gibt, das ist doch ganz offensichtlich. Die berufliche Bildung hingegen steht nicht so hoch im Kurs. Es ist paradox: Zwei Drittel der Deutschen beurteilen die duale Berufsausbildung positiv. Wenn man aber fragt, wer seinen eigenen Kindern diesen Weg empfehlen würde, dann reduziert sich die Zustimmung um ein Vielfaches. Dabei werden Facharbeiter dringend gesucht – und gut bezahlt. Und nichts spricht dagegen, nach einer Ausbildung, z. B. als Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik, später an einer Hochschule Versorgungstechnik zu studieren. Den Neigungen so mancher Schülerin und so manchen Schülers käme das sicher gelegen.

 

Am Hannah-Arendt-Gymnasium habe ich darum von ganzem Herzen für die berufliche Bildung geworben. Ich möchte sie in den kommenden Jahren mit dem Berufsbildungspakt weiter stärken. Die berufliche Bildung ist nicht nur ein Aushängeschild unseres Landes in der Welt und einer der Gründe dafür, warum unsere Jugendarbeitslosigkeit so viel geringer ist als anderswo, sie gibt dem Einzelnen oft auch viel mehr, als das die graue Theorie an der Uni vermag. Und nach der Ausbildung stehen einem weiter alle Türen offen: Stichwort Durchlässigkeit. Das gilt natürlich in beide Richtungen, denn so mancher Student hat nach einiger Zeit an der Universität gemerkt, dass ihm das Praktische fehlt, dass er vielleicht lieber eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann macht als ein Wirtschaftsstudium. Ich selbst habe nach meinem Abitur eine Banklehre absolviert und später ein BWL-Fernstudium gemacht. Bis heute kann ich sagen, dass dieser Weg der für mich richtige war. Darum finde ich es auch prima, dass am Hannah-Arendt-Gymnasium schon in der achten Klasse eine persönliche Berufsberatung angeboten wird und die Schüler erfahren, welch’ zahlreiche Berufsmöglichkeiten es gibt. Das hilft sehr, wenn man sich früh entscheiden muss, in welche Richtung es beruflich gehen soll.

 

Vielleicht fällt diese Entscheidung heute schwerer als früher. Ich sehe das an meinen eigenen Kindern. Leben wir doch in komplexen, unübersichtlichen Zeiten, in Zeiten, in denen sich die Welt um uns herum epochal verändert. Wie können wir diese komplexe Welt erfassen? Wie können wir Globalisierung und Digitalisierung gestalten? Ich meine, dass dafür vor allem zwei Dinge nötig sind. Erstens: Wir müssen als Gesellschaft zusammenhalten. Junge und Alte, Technikaffine und Technikmuffel, Facharbeiter und Uniabsolventen, Stadt- und Landmenschen dürfen sich nicht auseinanderdividieren lassen. Darum haben wir in unserem Koalitionsvertrag festgelegt, den Zusammenhalt in den Mittelpunkt zu stellen. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land! Und das schließt für mich selbstverständlich auch den Zusammenhalt als Europäer, als westliche Allianz gemeinsamer Werte, mit ein.

 

Und zweitens können wir die neue Herausforderung nicht meistern ohne Bildung. Bildung ist der Schlüssel – dieser Satz gilt mehr denn je. Bildung ist nicht nur die Basis für das Lebensglück jedes Einzelnen von uns. Sie trägt auch entscheidend dazu bei, die Lebensbedingungen in unserem Land weiter zu verbessern und uns alle fit zu machen für das digitale Zeitalter. Denn was wir gerade erleben, ist ein riesiger technologischer Sprung, vergleichbar in etwa mit der Zeit, als die Pferdekutschen von den Automobilen abgelöst wurden. Nur, dass dieser Wandel ungleich schneller vonstattengeht und wirklich alle Lebensbereiche erfasst: unsere Fortbewegung, unsere Kommunikation, unsere Arbeit. Und dass all diese Veränderungen weltweit passieren, gleichzeitig, dass wir also in Sekundenschnelle auf das Geschehen am anderen Ende der Welt reagieren können, und die anderen auf uns. In Theodor Fontanes „Der Stechlin“ springt aus der Tiefe des Sees immer dann ein sagenhafter Wasserstrahl, „wenn es draußen in der Welt, sei´s auf Island, sei´s auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird“. Es ist dieses Gefühl, dass alles mit allem zusammenhängt, das Fontane da beschreibt. Und das sich längst materialisiert hat: Wir müssen nur unser Handy aus der Hosentasche ziehen.

 

Anja Karliczek
Anja Karliczek, MdB ist Bundesministerin für Bildung und Forschung.
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