Durch die Augen der Heldinnen

Frauen in der Science-Fiction-Literatur

Um zu ergründen, was an solchen Klischees dran ist, wagte sich der kleine Verlag Briefgestöber im Jahr 2020 an ein besonderes (nicht ausschließliches Science-Fiction-)Projekt: Die Anthologie „UNKNOWN, Erzählungen unbekannter Herkunft“. Für diese Anthologie schrieben 12 Autor*innen Geschichten, ohne dabei namentlich genannt zu werden. Die Leserinnen und Leser konnten dann online abstimmen, hinter welchen Geschichten sie einen Autor vermuteten und hinter welchen eine Autorin. Die Auflösung gab es im Mai/Juni 2021 auf YouTube. Fazit: Bei keiner Geschichte war es für die Lesenden ersichtlich, ob ein Mann oder eine Frau den Text geschrieben hatte. Allein die Qualität war am Ende ein Bewertungskriterium. Was für eine schöne Literaturwelt, in der nicht der Name zählt, der auf dem Cover steht, sondern die Qualität des Textes. Vielleicht wäre diese Situation vergleichbar mit den „Blind Auditions“ von Konzertmusiker*innen, die dazu führten, dass Musikerinnen mehr Chancen auf Stellen in Konzerthäusern erhielten.

 

Dabei ist zu bedenken: Es gab und gibt schon immer Frauen, die hervorragende Geschichten schreiben und dafür auch bekannt werden, wie z. B. Mary Shelley für „Frankenstein“, Thea von Harbou für „Metropolis“ oder Ursula K. Le Guin für ihren „Hainish-Zyklus“. Diese drei Frauen haben Großartiges vollbracht, sie haben Werke geschaffen, die im öffentlichen Bewusstsein überdauern.

 

Viel mehr Science-Fiction-Autorinnen sind im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent. Offenbar müssen Frauen Jahrhunderttalente sein, um in der Masse der männlichen Kollegen herauszustechen. Frauen haben in den letzten Jahren auf sich aufmerksam gemacht und auch bei den bedeutendsten Preisen der Science-Fiction ordentlich abgeräumt. Die letzten fünf Hugo Awards, die seit 1953 verliehenen Science-Fiction-Leserpreise, gingen allesamt an Frauen: 2020 an „Im Herzen des Imperiums“ von Arkady Martine, 2019 an „Die Berechnung der Sterne“ von Mary Robinette Kowal, 2016/2017/2018 an die „Broken Earth“-Trilogie von N. K. Jemisin. In den USA ändern sich die Dinge also. Man darf hoffen, dass auch in Deutschland Autorinnen mehr Science-Fiction-Preise gewinnen.

 

Das bislang einzige Mal, dass der Kurd-Laßwitz-Preis für den besten Roman an eine Frau ging war 1988: Es gewann Gudrun Pausewang mit „Die Wolke“. Dafür gewann Pausewang im gleichen Jahr auch den Deutschen Science-Fiction-Preis (DSFP), der außerdem 1990 an Maria J. Pfannholz für „Den Überlebenden“ und 2007 an Ulrike Nolte für „Die fünf Seelen des Ahnen“ verliehen wurde. Abgesehen davon ging der DSFP seit 1985 ausschließlich an Männer. Wieder ist es ein Henne-Ei-Problem, ob das am Angebot, an der Besetzung der Jury oder an der Qualität des Textes liegt.

 

Bei den deutschen Literaturpreisen im Bereich Fantastik sieht es schon besser aus: Der Phantastik-Literaturpreis Seraph und Phantastikpreis der Stadt Wetzlar wurden im Verlauf der letzten Jahre immer häufiger an Frauen verliehen, sodass beinahe schon von einem 50:50-Verhältnis gesprochen werden kann. Und es ist gut, dass es keine Besonderheit, sondern Normalität wird, wenn Frauen diese Preise gewinnen. Wirklich normalisiert hat sich das Verhältnis aber erst, wenn auch Frauen im Mittelmaß ankommen dürfen und nicht erst Genies sein müssen, um wahrgenommen zu werden. Dafür müssen sich z. B. die Zusammensetzungen der Jurys ändern.

 

Autorinnen malen mit ihrer Sicht der Welt neue Visionen der Zukunft. Alles, was wir lesen, prägt unsere Gedankenwelt und bildet das Fundament und Hintergrundrauschen für unsere eigenen Erwartungen. Wenn wir die Zukunft durch die Augen der weiblichen Science-Fiction erleben, sehen wir andere Probleme und andere Lösungsstrategien als die, die männliche Helden der Vergangenheit angewandt haben. Indem wir die Zukunft lesen, öffnen wir einen Möglichkeitskorridor für unser Denken und Handeln. Es wäre also eine Vergeudung von wertvollen Ressourcen, die Ideen der Frauen nicht auf dem Schirm zu haben, zumal sie diejenigen sein werden, deren Stimme in Zukunft immer mehr gehört werden wird. Weibliche, vielfältigere, diversere Blickwinkel werden benötigt, um alle Herausforderungen überhaupt zu verstehen. Denn wie könnte ich Probleme beheben, wenn ich sie gar nicht verstehe?

 

Wer einen Überblick darüber erhalten möchte, welche Science-Fiction-Autorinnen es im deutschsprachigen Raum zurzeit gibt, kann auf der Liste deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen auf Wikipedia nachlesen. Als sie wegen mangelnder Relevanz gelöscht werden sollte, kämpften Schriftsteller*innen und ein Teil der Wikipedia-Community für den Erhalt der Liste: mit Erfolg.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.

Theresa Hannig & Lena Falkenhagen
Theresa Hannig ist Schriftstellerin. In ihren Geschichten beschäftigt sie sich mit der Zukunft unserer Gesellschaft in Hinblick auf Überwachung, KI und Klimawandel. Lena Falkenhagen arbeitet als freischaffende Schriftstellerin und Computerspiele-Autorin. Sie ist Bundesvorsitzende des Verbandes deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie Mitgründerin des Phantastik-Autoren-Netzwerks (PAN).
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