Theresa Hannig & Lena Falkenhagen - 2. Juli 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Science-Fiction

Durch die Augen der Heldinnen


Frauen in der Science-Fiction-Literatur

Wer an Science-Fiction denkt, denkt an Zukunft, clevere Roboter, glänzende Raumschiffe und heroische letzte Schlachten um das Schicksal der Menschheit. Eigentlich möchte man meinen, dass eine Literatur, die sich per Definition mit der Zukunft und der technologischen Entwicklung beschäftigt, auch ihrem Selbstverständnis nach vorwärtsgewandt ist.

 

Aber immer stimmt das nicht. Oftmals hatte Science-Fiction einen eher konservativen Kern: Sie ist dem Klischee nach eine Literaturgattung von Männern für Männer. Dies beginnt bei den Kinder- und Jugendbüchern, die immer größtenteils rosa für Mädchen oder blau und grau für Jungen gestaltet sind. Pferde und Elfen für die Mädchen, Raumschiffe, Monster und Roboter für die Jungen. Es ist schwer genug, Science-Fiction-Bücher für Kinder zu finden. Noch unmöglicher ist der Fund von Science-Fiction mit einer weiblich-kindlichen oder jugendlichen Protagonistin. Und so geht das Missverständnis weiter: Jungen lesen Science-Fiction von Männern, die wiederum glauben, Mädchen und Frauen würden sich nicht so sehr für Science-Fiction interessieren.

 

Nehmen wir nur mal die aktuellen Science-Fiction-Bestseller wie „Der Astronaut“ von Andy Weir, „Der Anschlag“ von Stephen King und „Teleport“ von Joshua Tree. Wir sehen Männer, die über Männer schreiben, die die Welt retten. Visionäre malen Bilder der Zukunft. Weibliche Science-Fiction ist unrelevant. So befanden es 2019 auch viele Wikipedianer, die eine Liste deutscher Science-Fiction-Autorinnen löschen wollten.

 

Frauen fanden in der Science-Fiction-Literatur bislang meist am Rande statt. Und dies ist wörtlich zu verstehen. Als schmückendes Beiwerk von Helden, die die Welt retten – so Zhuang Yan als wahr gewordene Traumfrau in Cixin Lius „Der Dunkle Wald“. Als Preis für halsbrecherische Missionen – wie Han Solo und Prinzessin Leia in der ursprünglichen Star-Wars-Trilogie drängen sich hier in den Vordergrund –, als schmachtender und bewundernder Gegenstand romantischen Interesses – sollte der Held es nach seiner Reise irgendwann nach Hause schaffen. Wenn eine Welt wiederhergestellt wurde, dann war es die gute alte, uns sehr bekannte. Das heißt übrigens natürlich nicht, dass Literatur von Männern für Männer schlecht ist – die namhaften Vertreter dieser Gattung beweisen die Qualität. Aber wenn diese Literatur die einzige ist, die erzählt wird, zeigt sie notgedrungen nur einen Ausschnitt des Spektrums.

 

Erfreulicherweise ändert sich diese Situation gerade. Es lohnt sich, die aktuellen Entwicklungen im Auge zu behalten, die teilweise in kleinen Schritten, teilweise in großen Umbrüchen daherkommen. Waren es bis vor Kurzem noch hauptsächlich Männer, deren Namen auch denjenigen bekannt waren, die Science-Fiction nur nebenbei und nicht als Hauptinteresse lasen – wie George Orwell, Douglas Adams, H.G. Wells, Aldous Huxley – so erhalten in den letzten Jahren vor allem junge weibliche Autorinnen mehr Aufmerksamkeit. Heute sind Namen wie N.K. Jemisin mit „Broken Earth“ oder Nnedi Okorafor mit „Binti“ in aller Munde, und es werden Geschichten von jungen Frauen aus der Perspektive von Frauen und nichtbinären Menschen erzählt.

 

In dieser Literatur werden andere Themen verhandelt. Oft geht es weniger um die Rettung der Welt mit ihren guten alten Strukturen, als um das Überleben in einer Welt, die den Protagonistinnen feindlich gegenübersteht. Gesellschaftliche und menschliche Widrigkeiten müssen überwunden werden, ohne dabei die eigene Integrität und Identität zu verlieren. Die Frauen in den neuen Science-Fiction-Geschichten sind keine einsamen Wölfe, keine unwahrscheinlichen Helden, die gegen alle Widerstände zum Sieg kommen.

 

Die neue Science-Fiction bricht aus alten Erzählmustern aus.
Heute sind es komplexe, facettenreiche Protagonistinnen, die das ganze Repertoire menschlicher Handlungsoptionen ausschöpfen, um an ihr Ziel zu kommen. Von den hübschen Trophäen männlicher Helden werden sie zu selbstbewussten Charakteren, die sich nicht nur in Bezug auf den männlichen Gegenpart oder Familien definieren, sondern im Gegenteil die Männer und den Rest der Welt zu sich selbst in Bezug setzen.

 

Kehren wir zurück zu den Zahlen. Obwohl die meisten Leserinnen und Leser sich nicht bewusst dafür entscheiden, mehrheitlich von Männern geschriebene Bücher zu lesen, sprechen die Zahlen für sich: Es werden wesentlich mehr von Männern verfasste Science-Fiction-Bücher in Buchhandlungen angeboten, verkauft und mit Literatur-Preisen bedacht als Science-Fiction-Bücher von Frauen.

 

Das liegt unter anderem an einem Missstand, den Nina George bereits in ihrem 2018 durchgeführten Projekt #frauenzählen aufgezeigt hat: von Männern verfasste Science-Fiction-Romane werden drei Mal so häufig in Zeitungen, im Radio oder im Fernsehen besprochen wie Science-Fiction-Literatur von Frauen. Und selbst wenn die Werke von Autorinnen besprochen werden, so werden ihnen nur halb so viele Zeilen gewidmet wie den Büchern eines männlichen Science-Fiction-Autors. Es mag also in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, Frauen würden keine oder nahezu keine Science-Fiction schreiben. Oft richten sich auch die Verlage und die Buchhandlungen danach, was sich mutmaßlich besser verkauft, und bieten dementsprechend mehr von Männern als von Frauen geschriebene Science-Fiction an. Ein klassisches Henne-Ei-Problem.

Um zu ergründen, was an solchen Klischees dran ist, wagte sich der kleine Verlag Briefgestöber im Jahr 2020 an ein besonderes (nicht ausschließliches Science-Fiction-)Projekt: Die Anthologie „UNKNOWN, Erzählungen unbekannter Herkunft“. Für diese Anthologie schrieben 12 Autor*innen Geschichten, ohne dabei namentlich genannt zu werden. Die Leserinnen und Leser konnten dann online abstimmen, hinter welchen Geschichten sie einen Autor vermuteten und hinter welchen eine Autorin. Die Auflösung gab es im Mai/Juni 2021 auf YouTube. Fazit: Bei keiner Geschichte war es für die Lesenden ersichtlich, ob ein Mann oder eine Frau den Text geschrieben hatte. Allein die Qualität war am Ende ein Bewertungskriterium. Was für eine schöne Literaturwelt, in der nicht der Name zählt, der auf dem Cover steht, sondern die Qualität des Textes. Vielleicht wäre diese Situation vergleichbar mit den „Blind Auditions“ von Konzertmusiker*innen, die dazu führten, dass Musikerinnen mehr Chancen auf Stellen in Konzerthäusern erhielten.

 

Dabei ist zu bedenken: Es gab und gibt schon immer Frauen, die hervorragende Geschichten schreiben und dafür auch bekannt werden, wie z. B. Mary Shelley für „Frankenstein“, Thea von Harbou für „Metropolis“ oder Ursula K. Le Guin für ihren „Hainish-Zyklus“. Diese drei Frauen haben Großartiges vollbracht, sie haben Werke geschaffen, die im öffentlichen Bewusstsein überdauern.

 

Viel mehr Science-Fiction-Autorinnen sind im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent. Offenbar müssen Frauen Jahrhunderttalente sein, um in der Masse der männlichen Kollegen herauszustechen. Frauen haben in den letzten Jahren auf sich aufmerksam gemacht und auch bei den bedeutendsten Preisen der Science-Fiction ordentlich abgeräumt. Die letzten fünf Hugo Awards, die seit 1953 verliehenen Science-Fiction-Leserpreise, gingen allesamt an Frauen: 2020 an „Im Herzen des Imperiums“ von Arkady Martine, 2019 an „Die Berechnung der Sterne“ von Mary Robinette Kowal, 2016/2017/2018 an die „Broken Earth“-Trilogie von N. K. Jemisin. In den USA ändern sich die Dinge also. Man darf hoffen, dass auch in Deutschland Autorinnen mehr Science-Fiction-Preise gewinnen.

 

Das bislang einzige Mal, dass der Kurd-Laßwitz-Preis für den besten Roman an eine Frau ging war 1988: Es gewann Gudrun Pausewang mit „Die Wolke“. Dafür gewann Pausewang im gleichen Jahr auch den Deutschen Science-Fiction-Preis (DSFP), der außerdem 1990 an Maria J. Pfannholz für „Den Überlebenden“ und 2007 an Ulrike Nolte für „Die fünf Seelen des Ahnen“ verliehen wurde. Abgesehen davon ging der DSFP seit 1985 ausschließlich an Männer. Wieder ist es ein Henne-Ei-Problem, ob das am Angebot, an der Besetzung der Jury oder an der Qualität des Textes liegt.

 

Bei den deutschen Literaturpreisen im Bereich Fantastik sieht es schon besser aus: Der Phantastik-Literaturpreis Seraph und Phantastikpreis der Stadt Wetzlar wurden im Verlauf der letzten Jahre immer häufiger an Frauen verliehen, sodass beinahe schon von einem 50:50-Verhältnis gesprochen werden kann. Und es ist gut, dass es keine Besonderheit, sondern Normalität wird, wenn Frauen diese Preise gewinnen. Wirklich normalisiert hat sich das Verhältnis aber erst, wenn auch Frauen im Mittelmaß ankommen dürfen und nicht erst Genies sein müssen, um wahrgenommen zu werden. Dafür müssen sich z. B. die Zusammensetzungen der Jurys ändern.

 

Autorinnen malen mit ihrer Sicht der Welt neue Visionen der Zukunft. Alles, was wir lesen, prägt unsere Gedankenwelt und bildet das Fundament und Hintergrundrauschen für unsere eigenen Erwartungen. Wenn wir die Zukunft durch die Augen der weiblichen Science-Fiction erleben, sehen wir andere Probleme und andere Lösungsstrategien als die, die männliche Helden der Vergangenheit angewandt haben. Indem wir die Zukunft lesen, öffnen wir einen Möglichkeitskorridor für unser Denken und Handeln. Es wäre also eine Vergeudung von wertvollen Ressourcen, die Ideen der Frauen nicht auf dem Schirm zu haben, zumal sie diejenigen sein werden, deren Stimme in Zukunft immer mehr gehört werden wird. Weibliche, vielfältigere, diversere Blickwinkel werden benötigt, um alle Herausforderungen überhaupt zu verstehen. Denn wie könnte ich Probleme beheben, wenn ich sie gar nicht verstehe?

 

Wer einen Überblick darüber erhalten möchte, welche Science-Fiction-Autorinnen es im deutschsprachigen Raum zurzeit gibt, kann auf der Liste deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen auf Wikipedia nachlesen. Als sie wegen mangelnder Relevanz gelöscht werden sollte, kämpften Schriftsteller*innen und ein Teil der Wikipedia-Community für den Erhalt der Liste: mit Erfolg.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.


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