Wer an Science-Fiction denkt, denkt an Zukunft, clevere Roboter, glänzende Raumschiffe und heroische letzte Schlachten um das Schicksal der Menschheit. Eigentlich möchte man meinen, dass eine Literatur, die sich per Definition mit der Zukunft und der technologischen Entwicklung beschäftigt, auch ihrem Selbstverständnis nach vorwärtsgewandt ist.
Aber immer stimmt das nicht. Oftmals hatte Science-Fiction einen eher konservativen Kern: Sie ist dem Klischee nach eine Literaturgattung von Männern für Männer. Dies beginnt bei den Kinder- und Jugendbüchern, die immer größtenteils rosa für Mädchen oder blau und grau für Jungen gestaltet sind. Pferde und Elfen für die Mädchen, Raumschiffe, Monster und Roboter für die Jungen. Es ist schwer genug, Science-Fiction-Bücher für Kinder zu finden. Noch unmöglicher ist der Fund von Science-Fiction mit einer weiblich-kindlichen oder jugendlichen Protagonistin. Und so geht das Missverständnis weiter: Jungen lesen Science-Fiction von Männern, die wiederum glauben, Mädchen und Frauen würden sich nicht so sehr für Science-Fiction interessieren.
Nehmen wir nur mal die aktuellen Science-Fiction-Bestseller wie „Der Astronaut“ von Andy Weir, „Der Anschlag“ von Stephen King und „Teleport“ von Joshua Tree. Wir sehen Männer, die über Männer schreiben, die die Welt retten. Visionäre malen Bilder der Zukunft. Weibliche Science-Fiction ist unrelevant. So befanden es 2019 auch viele Wikipedianer, die eine Liste deutscher Science-Fiction-Autorinnen löschen wollten.
Frauen fanden in der Science-Fiction-Literatur bislang meist am Rande statt. Und dies ist wörtlich zu verstehen. Als schmückendes Beiwerk von Helden, die die Welt retten – so Zhuang Yan als wahr gewordene Traumfrau in Cixin Lius „Der Dunkle Wald“. Als Preis für halsbrecherische Missionen – wie Han Solo und Prinzessin Leia in der ursprünglichen Star-Wars-Trilogie drängen sich hier in den Vordergrund –, als schmachtender und bewundernder Gegenstand romantischen Interesses – sollte der Held es nach seiner Reise irgendwann nach Hause schaffen. Wenn eine Welt wiederhergestellt wurde, dann war es die gute alte, uns sehr bekannte. Das heißt übrigens natürlich nicht, dass Literatur von Männern für Männer schlecht ist – die namhaften Vertreter dieser Gattung beweisen die Qualität. Aber wenn diese Literatur die einzige ist, die erzählt wird, zeigt sie notgedrungen nur einen Ausschnitt des Spektrums.
Erfreulicherweise ändert sich diese Situation gerade. Es lohnt sich, die aktuellen Entwicklungen im Auge zu behalten, die teilweise in kleinen Schritten, teilweise in großen Umbrüchen daherkommen. Waren es bis vor Kurzem noch hauptsächlich Männer, deren Namen auch denjenigen bekannt waren, die Science-Fiction nur nebenbei und nicht als Hauptinteresse lasen – wie George Orwell, Douglas Adams, H.G. Wells, Aldous Huxley – so erhalten in den letzten Jahren vor allem junge weibliche Autorinnen mehr Aufmerksamkeit. Heute sind Namen wie N.K. Jemisin mit „Broken Earth“ oder Nnedi Okorafor mit „Binti“ in aller Munde, und es werden Geschichten von jungen Frauen aus der Perspektive von Frauen und nichtbinären Menschen erzählt.
In dieser Literatur werden andere Themen verhandelt. Oft geht es weniger um die Rettung der Welt mit ihren guten alten Strukturen, als um das Überleben in einer Welt, die den Protagonistinnen feindlich gegenübersteht. Gesellschaftliche und menschliche Widrigkeiten müssen überwunden werden, ohne dabei die eigene Integrität und Identität zu verlieren. Die Frauen in den neuen Science-Fiction-Geschichten sind keine einsamen Wölfe, keine unwahrscheinlichen Helden, die gegen alle Widerstände zum Sieg kommen.
Die neue Science-Fiction bricht aus alten Erzählmustern aus.
Heute sind es komplexe, facettenreiche Protagonistinnen, die das ganze Repertoire menschlicher Handlungsoptionen ausschöpfen, um an ihr Ziel zu kommen. Von den hübschen Trophäen männlicher Helden werden sie zu selbstbewussten Charakteren, die sich nicht nur in Bezug auf den männlichen Gegenpart oder Familien definieren, sondern im Gegenteil die Männer und den Rest der Welt zu sich selbst in Bezug setzen.
Kehren wir zurück zu den Zahlen. Obwohl die meisten Leserinnen und Leser sich nicht bewusst dafür entscheiden, mehrheitlich von Männern geschriebene Bücher zu lesen, sprechen die Zahlen für sich: Es werden wesentlich mehr von Männern verfasste Science-Fiction-Bücher in Buchhandlungen angeboten, verkauft und mit Literatur-Preisen bedacht als Science-Fiction-Bücher von Frauen.
Das liegt unter anderem an einem Missstand, den Nina George bereits in ihrem 2018 durchgeführten Projekt #frauenzählen aufgezeigt hat: von Männern verfasste Science-Fiction-Romane werden drei Mal so häufig in Zeitungen, im Radio oder im Fernsehen besprochen wie Science-Fiction-Literatur von Frauen. Und selbst wenn die Werke von Autorinnen besprochen werden, so werden ihnen nur halb so viele Zeilen gewidmet wie den Büchern eines männlichen Science-Fiction-Autors. Es mag also in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, Frauen würden keine oder nahezu keine Science-Fiction schreiben. Oft richten sich auch die Verlage und die Buchhandlungen danach, was sich mutmaßlich besser verkauft, und bieten dementsprechend mehr von Männern als von Frauen geschriebene Science-Fiction an. Ein klassisches Henne-Ei-Problem.