Tag und Nacht steht er seit fast 150 Jahren auf einem Sockel vor dem Wittenberger Rathaus. Was er, Philipp Melanchthon, wohl selber dazu sagen würde? Ein kleiner Baldachin schützt ihn vor Sonne und Regen. In der Hand hält er sein wohl bekanntestes Werk: die Confessio Augustana (CA).
„Wer war dieses Wunderkind der Reformation?“
Diese Bekenntnisschrift, die nach vielen Verhandlungen, Kompromissangeboten und Abstimmungen 1530 auf dem Reichstag zu Worms Kaiser und Reich verlesen wurde, ist zum Gründungsdokument der Protestanten geworden. Als Philipp Melanchthon zu seinem 300. Todestag 1860 auf dem Wittenberger Marktplatz ein Denkmal gesetzt werden sollte, prominent neben seinem Mitstreiter Martin Luther, der dort schon seit 1821 stand, werden kritische Stimme laut, die fürchten „Luthers Größe“ würde durch ein zweites Denkmal herabgesetzt. Das Wittenberg des 16. Jahrhunderts kennt beide als treuen Kollegen, benachbarte Familien und wohl auch Freunde. Auch wenn beide in der Wittenberger Zeit seit an seit mit Schriften und Disputationen, in Religionsgesprächen und am Universitätskatheder für die neue Lehre stritten, warben und verhandelten, so vergaß die frühe Reformationserinnerung schnell den Anteil Philipp Melanchthons. Umso heller sollte Luthers Stern am Reformationshimmel strahlen. Dabei beerdigten die Zeitgenossen sie nicht zufällig nebeneinander in der Reformationsgedächtniskirche Wittenbergs, der Schlosskirche. Am 19. April 2010 jährt sich zum 450. Mal der Todestag Philipp Melanchthons, des kleinen Mannes und großen Geistes. Dies ist Anlass genug den „praeceptor germaniae“ mit einem Themenjahr „Reformation und Bildung“ in der Lutherdekade zu ehren. Dass Philipp Melanchthon vielen als „Lehrer Deutschlands“ in Erinnerung ist, liegt nicht zuletzt in seinem vielfältigen Eintreten für die Reformation der Schullandschaft, der Universitätsausbildung wie auch seinen grundsätzlichen Überlegungen zur Menschenbildung. Dennoch ist damit nur ein Teil seines Wirkens beschrieben. Auch als politischer Kopf, als vernetzter Europäer und als ökumenischer Theologe erwarb er sich einen Ruhm, der weit über die Grenzen Kursachsens hinaus strahlte. Wer war dieses Wunderkind der Reformation?
Der Pädagoge
Melanchthon besetzt 1518 als junger Griechisch-Professor, den zweiten Lehrstuhl dieser Art in Deutschland. Drei Tage nach seiner Ankunft in Wittenberg hält der 21jährige seine hochgelobte Antrittsvorlesung über notwendige Universitäts- und Studienreformen. Was für ein Auftakt! Bildung leitet der jungen Gelehrten vom lateinischen Begriff „eruditio“ ab, zu deutsch „Entrohung“. Sein Bildungsanspruch verkürzt sich nicht in Ausbildung oder Wissenserwerb. Ihm geht es um Persönlichkeitsbildung in einem weiten Sinn. Für den Humanisten bedeutet dies den Gang zur Quelle. Aber nicht nur auf bildungstheoretische Überlegungen gründet sich sein exzellenter Ruf. Er verfasst Schulbücher, die in hoher Auflage breite Aufnahme in vielen Schulen und Universitäten fanden. Seine Einführungen in Logik und Grammatik werden zu Standardwerken. Darüber hinaus erarbeitet der hochgelehrte Magister grundlegende Schriften, Lehrbücher und Kommentare in einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen: von der Astrologie bis zur Botanik von der Geologie bis zur Staatsphilosophie. Melanchthon hält neben Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät bald auch Lehrveranstaltungen bei den Theologen. Von den zahlreichen Schulgründungen, die durch ihn inspiriert und unterstützt wurden (bis hin zu Personalvorschlägen) ist die Gründung des ersten deutschen Gymnasiums in Nürnberg 1525 besonders hervorzuheben. Hierfür entwirft er selber einen Lehrplan mit den Kernfächern Latein, Griechisch, Rhetorik und Mathematik. Seine zahlreichen Studenten verbreiteten Melanchthons Überlegungen zu Schul- und Universitätsordnungen samt Lehrplangestaltung, Methodik und Inhalt in vielen Ländern Europas. Bis nach England reicht sein Ruf wo er als „Einer der Könige der Bildung“ betitelt wird und ihn ein englischer Dichter besingt: „Ein Mann, sehr besonnen, bar jeder Streitsucht, ein Mann von höchster Gelehrsamkeit und Toleranz, wie es in unseren verderbten Zeiten keinen zweiten gibt.“
Der Europäer
Der englische König Heinrich VIII mühte sich vergeblich Melanchthon auf die Insel zu locken. 100 Pfund Reisekosten waren im königlichen Haushalt schon eingeplant. Doch Melanchthon spannt sein europäisches Netzwerk von Wittenberg aus. Über 9000 Briefe sind von ihm erhalten. Nicht alle gehen ins Ausland aber der Briefwechsel mit dem dänischen König, Christian III. zur Erneuerung von Schule und Universität in Kopenhagen zeigt exemplarisch seine Rolle als Ratgeber für Könige und Fürstenhäuser. Seine Schreiben beeinflussen den Gang der Reformation in vielen Ländern und seine Studenten werden zu Botschaftern der Reformation: von Ungarn bis Frankreich, von Finnland bis Italien. Über 2.000 Studenten, darunter viele Ungarn und Skandinavier, verleihen Wittenberg binnen weniger Jahre die Aura einer internationalen Universitätsstadt. Die Zimmer in der Stadt werden knapp. So öffnet auch Melanchthon seine Türen für Hausschüler und zahlreiche Gästen aus aller Herren Ländern, die seinetwegen nach Wittenberg kommen. Manche Hausgäste quartieren sich monatelang ein, wie etwa der Serbe Demetrius, mit dem Melanchthon die CA ins Griechische übersetzt. Elf verschiedene Sprachen seien heute an seinem Tisch erklungen, teilt Melanchthon in einem Brief mit. „Latein und Griechisch, Hebräisch und Ungarisch, ja sogar türkisch und arabisch“ sprachen die Gäste in seiner Studierstube, schreibt er an anderer Stelle. Latein ist das Englisch dieser neuen Bildungselite. In der Trauerrede klingt diese Facette seines Wirkens noch einmal an: „Um unseren Philipp zu hören, sind von allen Gegenden Deutschlands, was sage ich Deutschlands, vielmehr von fast allen Provinzen und Königreichen ganz Europas, aus Frankreich, England, Ungarn, Siebenbürgen, Polen, Dänemark, Böhmen, auch aus Italien, ja aus Griechenland zu allen Zeiten Studenten in großer Zahl nach Wittenberg geströmt, weil sie vom Ruf seines Namens angelockt wurden.“