Luther historisch einordnen

Luther 2017 – welche Bedeutung können der Wittenberger Reformator und sein Werk anfangs des 21. Jahrhunderts beanspruchen und welche Kreise haben Anlass, der Ereignisse vor 500 Jahren zu gedenken – nur die Lutheraner oder die Christen insgesamt und darüber hinaus auch Nicht-Christen, die sich der geistigen Ursprünge ihrer Existenz vergewissern wollen? Eine Antwort auf diese Fragen ist einfach und schwer zugleich. Denn einerseits ist Luther im Geschichtsbild nicht nur der Deutschen und des Luthertums nachdrücklich präsent – anders als etwa Johannes Calvin, dessen 500. Geburtstages in diesem Jahr gedacht wird. Andererseits ist es aber gerade diese Allpräsenz, die die geschichtliche Leistung Luthers eher verdunkelt als erhellt, beruht sie doch im Wesentlichen auf späterer politischer Inanspruchnahme vor allem durch nationale Deutungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Um Mann und Werk im Horizont ihrer Zeit zu begreifen und ihre Bedeutung für die Gegenwart historisch sachgerecht zu bestimmen, gilt es diese Halde der Lutherrezeption und des Luthermythos abzutragen. Zudem empfiehlt es sich, zwischen den Intentionen des Wittenberger Bibelprofessors einerseits und seinen darüber hinausgehenden Wirkungen andererseits zu unterscheiden.

 

Intentionen und Antriebskern seines Handelns lassen sich nicht aus einer Nähe Luthers zu den Bedingungen unserer heutigen Existenz bestimmen. Vielmehr gilt es auf das ganz Andere und Fremde bei Luther zu achten: Von seiner Wirkungsgeschichte befreit, ist der Reformator eine der großen Gestalten einer für uns heute verlorenen Welt. Er und sein Werk sind nur historisch zu verstehen, wollen wir nicht wiederum nur den eigenen Zeitgeist in ihm „feiern“. Luther darf nicht, jedenfalls nicht vorschnell, zu dem Unsrigen gemacht werden, wie das bei den zurückliegenden Zentenarfeiern die Regel war – 1617, in gewisser Weise auch noch 1717 Luther, der Konfessionalist und Befreier aus papistischer Knechtschaft; 1817 Luther, der Befreier und Heros der soeben erweckten Deutschen Nation (Wartburgfest 18/19. Oktober); 1917 der nationalistische Durchhalte-Luther, der wenig später in den finsteren Jahren der nationalsozialistischen Selbst- und Fremddeutung sogar zum Ahnherr Hitlers verzerrt wurde.

„Luther markiert eine Wegscheide der Weltgeschichte“

Allerdings kann es nicht bei der Trennung von vergangener Lebenswelt und Wirkungsgeschichte bleiben. Denn wie immer man seine Biographie ansetzen mag, Luther markiert eine „Wegscheide der Weltgeschichte“ (Gottfried Schramm) und ist daher für die Gegenwart unmittelbar relevant: Ohne ihn wären wir, und zwar auch die Nichtchristen im „Westen“ nicht, was wir geworden sind! In der damit eröffneten entwicklungsgeschichtlichen Perspektive nimmt die Reformations- und Konfessionalisierungsforschung Luther und die Reformation heute allerdings deutlich anders wahr als in der Nachfolge des für solche Fragen lange kanonischen Religionssoziologen Max Weber. Denn zum einen können Luther und Wittenberg keineswegs für einen modernisierenden Aufbruch gegen ein stagnierendes, zum Wandel unfähiges Papsttum stehen. Im Gegenteil, sie waren Reaktion auf einen gewaltigen Modernisierungsschub, den die Kurie, der Kirchenstaat und das Papsttum seit Mitte des 14. Jahrhunderts erfahren hatten. Als ausgangs des 15. Jahrhunderts mit dem Konziliarismus die „Ständeopposition“ der Bischöfe niedergerungen war, konnte der Kirchenstaat als eines der ersten frühmodernen Staatswesen Europas gelten – regiert vom Papst als einem der ersten frühmodernen, souveränen Monarchen Europas, verwaltet von einer Bürokratie, die ihresgleichen suchte, Vorbild im Rechtswesen, der Diplomatie und im höfischen Zeremoniell, das noch auf Jahrhunderte hin das kulturelle wie politische Leben Europas prägte. Das alles wird von der protestantisch geprägten Geschichtswissenschaft notorisch unterschätzt und in ihrem Bild von der Reformation nicht hinreichend beachtet.

 

Zum anderen, und das ist der uns heute schwer zugängliche Kern der universalgeschichtlichen Bedeutung Luthers, erfolgte die Wittenberger Reaktion auf die von Rom ausgehende „Modernisierungskrise“ gerade nicht als eine weitere, die römische übertrumpfende Modernisierung. Vielmehr kam es durch Luther und die von ihm ausgelöste reformatorische Bewegung zur Reaktivierung jener Kraft, die der römische Renaissancetyp der Modernisierung weitgehend abgeschafft hatte, nämlich der Religion als heilsgeschichtlich gerichtetem Glauben. Das hatte weit reichende, eben weltgeschichtliche Konsequenzen, die durchaus ihrerseits den Modernisierungs- und Wandlungsprozess der europäischen Neuzeit vorantrieben, aber in einer anderen, spezifischen Weise: Die Religion kehrte mit ganzer Macht als Leitkraft in das private und öffentliche Leben Europas zurück. Und insofern ist es berechtigt, Luther im Jahr 2017 als einen Vater im Glauben (Peter Manns) der gesamten Christenheit zu feiern, auch wenn sich diese infolge der Reformation in verschiedene Konfessionskirchen differenzierte.

 

Luthers Rücklenken zur heilsgeschichtlich verstandenen Religion bedeutete indes keine De-Modernisierung, wie das aus dieser Wende resultierende konfessionelle Zeitalter im Vergleich zur Rationalität und Freiheit der Renaissanceepoche gelegentlich abwertend charakterisiert wird. Luthers Sicherung der Religion für die Neuzeit bedeutete vielmehr das Einlenken in einen von der Religion wesentlich mitgeprägten Modernisierungskanal, in dem eine weit größere und qualitativ andere Dynamik freigesetzt wurde, als es dem verweltlichten Renaissancepapsttum je möglich gewesen wäre. Von dieser lutherischen Zentrierung auf die Religion profitierte schließlich auch die römische Kirche. In der tridentinischen Reform wurde sie zur neuzeitlichen katholischen Konfessionskirche, in der die Religion wieder im Zentrum stand und die dadurch in ganz ähnlicher Weise wie die protestantischen Kirchen einen spezifischen Beitrag zur frühmodernen Dynamisierung leisten konnte.

Heinz Schilling
Heinz Schilling ist Professor für Frühe Neuzeit am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.
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