Über alle konfessionellen Grenzen hinweg fordert er heraus, fasziniert er durch seine Entschiedenheit, seine Sprachgewalt, Fleiß, seinen scharfen Verstand und seinen Bekennermut: Der Gottsucher, Gottesfürchtige, Augustinermönch, Prediger und Reformator Martin Luther. Die größte Provokation geschieht allerdings durch seine theologische Gestalt. Die Theologie Martin Luthers, der freilich kein Heiliger ist, lockt zum gründlichen Studium, dies zumal, wenn man in Worms geboren und aufgewachsen ist.
An der Weimarer Ausgabe muss man sich hart abarbeiten, muss sich einlassen auf die antithetische Gestalt einer aus der Situation und für sie urgierten Theologie, muss sich in die innere Dynamik eindenken, wie es selbst von lutherischen Predigern oftmals vergessen oder gar nicht mehr gekannt wird. Die massenhafte Abwendung von den Kirchen – katholische wie evangelische – geschieht auch deshalb, weil die Menschen die Verkündigung des Wortes nicht mehr überzeugend als existenzumstürzendes Sprach- und Denkereignis erleben. Theologie als herausfordernde Disputation zu betreiben bedeutet, sie gerade nicht in ein rigides Lehrgebäude zu zementieren, sondern sie auf die Weise der lebendigen Suche nach Gott und dem Menschen in Verkündigung und Wissenschaft als Streitsache in bestem Sinne voran zu bringen. Theologie nach lutherischem Vorbild zu denken heißt, den schuldigen und verlorenen Menschen und den rechtfertigenden und erlösenden, rettenden Gott in den Mittelpunkt zu stellen. Dem Wort wollte er zuvörderst dienen, jedes Sprachschöpfertum steht unter dem Dienst am Wort des Evangeliums. Nur aus der handlungsrelevanten Dialektik dieses sprachgewaltigen Denkens und Sprechens lassen sich die Antithesen verstehen: Gesetz und Evangelium, Freiheit und Unfreiheit, Buchstabe und Geist, verborgener und offenbarer Gott …Doch die Bejahung des Einen heißt Nicht, die Verneinung des Anderen und umgekehrt.
Martin Luther ist freilich kein Heiliger
Diese Theologie lässt sich bis in Einzelfragen der Kritik unterwerfen ein sanftes Ruhekissen ist sie nicht sie eignet sich auch nicht für Konsenstheologen, sondern fordert zum Ja oder Nein, besser zum dialektischen Ja und Nein im eingeschlossenen Dritten auf, immer mit dem Blick auf die Kreatur, die vor ihrem Gott bestehen will und muss, die verspürt, dass sie angesichts Gottes marginal und zentral zugleich allein auf Gottes Handeln angewiesen ist. Der Primat der Gnade vor der Handlungsmöglichkeit mag dem nachpostmodernen Menschen heute nicht mehr schmecken, da sein Selbstverständnis stark von einer nachneuzeitlichen Autonomie geprägt ist.
Die Ernsthaftigkeit des Stehens vor Gott lässt Luther keine Ruhe, so sehr ist er vom Geiste Augustins geprägt. Mit der gnadenhaften Wirklichkeit Gottes zu rechnen, ist für Luther Lebensinhalt schlechthin: Wie sieht die dynamische Wirklichkeit zwischen Gott und Mensch aus? Kann das Einzelsubjekt vor seinem Gott bestehen? Diese subjektbezogene Frage ist revolutionär angesichts einer durch Kirche und Lehramt verbürgten Objektivität. Die Frage überwältigt Luther, lässt ihn in ein Rechtfertigungsdrama eintreten, in dem er fast selbst zugrunde geht, so radikal und ausschließlich, so unerbittlich und unumkehrbar macht er seine eigene Erfahrung zum Paradigma des Verhältnisses des Menschen vor Gott überhaupt: Wie finde ich einen gnädigen Gott?
Den hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Schrift – und damit zum Verstehen des Menschen angesichts Gottes – findet er in Röm 1, 17: „Denn die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart aus dem Glauben zum Glauben“.
Doch wie steht es mit dem Rechtfertigungsbedürfnis des Heutigen? Die Dichotomie von Gesetz und Evangelium zielt gegen jeden im Grunde atheistischen Versuch der Selbstrechtfertigung, bei dem der Mensch nicht auf Gott allein angewiesen sein will. Insofern ist die Gesetzesgläubigkeit das Gegenteil von Glauben im Sinne des Evangeliums und damit als Kategorie für die Versöhnung unbrauchbar. Leistungen können die Gott-Mensch-Beziehung nicht grundlegend ändern: „Wo Menschenkraft ausgeht, da geht Gotteskraft ein, wenn der Glaube da ist und darauf wartet“ (WA 7,568 f.). Alles kommt darauf an, dass Gott die Gerechtigkeit durch Gnade gewährt und anrechnet. Der identitätsstiftende Glaube ergreift Christus und der Glaubende wird durch Christus, der in ihm lebt, zum eigentlichen persönlichen Ich.
All die entscheidenden Fragen schauen nicht auf die entlastende Kraft der kirchlich-sakramentalen Tröstungen, sondern der sündige Mensch erfährt sich radikal und vereinzelt auf sich allein vor Gott gestellt, allein im Glauben an Christus, der allein im Kreuz erlöst, dem allein im Glauben zu begegnen ist und dessen Wort des Evangeliums allein genügt. Eine Theologie des Kreuzes zu leben, die die Entschiedenheit des Einzelnen betont, die auch in Vereinzelung führen kann, die im Amt nur Hindernis und Afterdienst erblickt: Ist sie tatsächlich leb- und universalisierbar? Sie bleibt eine anfechtbare Theologie im Widerstreit, im inneren und äußeren Kampf, in der Unruhe nimmermüden Suchens, dem allein das Wort das Brot des Lebens gibt, den nur der Glaube an die vergebende Liebe Gottes leben lässt.