Das wichtigste Erbe der Reformation

Der Umgang mit Andersgläubigen als Wurzel unserer Demokratie

Im Zentrum meiner Heimatstadt Biberach an der Riss steht ein Gebäude, das wie kaum ein anderes die zentrale gesellschaftliche Errungenschaft der Reformation in Deutschland verkörpert: die Stadtpfarrkirche St. Martin. Bereits 1548 kamen die protestantischen und katholischen Bürger der damaligen Freien Reichsstadt überein, diese größte und bedeutendste Kirche ihrer Stadt künftig gemeinsam und paritätisch zu nutzen. Damit begründeten sie eine friedliche Koexistenz beider Konfessionen, die auch heute noch die Nutzung dieses Gotteshauses prägt. Um zu begreifen, wie revolutionär diese Übereinkunft war, muss man sich nur die Geschichte des abendländischen Christentums in den ersten tausend Jahren seiner Existenz als Staatsreligion vor Augen führen: Gnadenlos hatte die Kirche bis dahin alle anderen Religionen in den von ihr beherrschten Gebieten eliminiert und auch die Anhänger abweichender Heilsvorstellungen innerhalb des Christentums von den Katharern bis zu den Hussiten mit Feuer und Schwert verfolgt. Doch mit der Reformation war das plötzlich nicht mehr möglich: Die Menschen sahen sich gezwungen, zu akzeptieren, dass es in ihrer Stadt und ihrem Staat Gemeinschaften gab, die andere Vorstellungen von einem gottgefälligen Leben hatten. Und sie sahen sich vor allem gezwungen, diesen Menschen die gleichen Rechte zuzubilligen wie ihren eigenen Konfessionsgenossen. Denn weder konnten die Protestanten die Katholiken aus den Städten verjagen noch umgekehrt, ohne dass das Gemeinwesen insgesamt in seiner Existenz gefährdet worden wäre.

 

Dass es die Bürger von unabhängigen Städten wie Biberach waren, die diese Gleichberechtigung mit als erste durchsetzten, während die Fürsten wenige Jahre später im Augsburger Religionsfrieden auf den diktatorischen Grundsatz des „Cuius regio, eius religio“ zurückfielen, erfüllt mich mit Stolz. Denn ich glaube, dass genau hier die Wurzeln unserer demokratischen Gesellschaft liegen und dass unsere Überzeugung von Toleranz gegenüber Andersgläubigen und Akzeptanz von Anderslebenden wesentlich durch diese Erfahrung des Miteinander-Umgehen-Müssens vorgeprägt wurde, zu der unsere Vorfahren durch die Reformation gezwungen waren.

„Dieses Miteinander-Umgehen-Müssen zieht zwangsläufig auch die Neugier auf die „Anderen“, ihre Kulte und Lebensformen, nach sich“

Dieses Miteinander-Umgehen-Müssen zieht zwangsläufig auch die Neugier auf die „Anderen“, ihre Kulte und Lebensformen, nach sich – und damit auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensform und den anerzogenen Verhaltensmustern. Ich selbst erinnere mich noch gut an die Faszination, die der Protestantismus auf mich als Jugendlichen ausübte, obwohl – oder vielleicht gerade weil – ich in einem streng katholischen Elternhaus erzogen worden war und es noch für meine Mutter undenkbar gewesen wäre, einen Protestanten zu heiraten. Fasziniert war ich vor allem von der intellektuellen Ausein­andersetzung, die bei den Protestanten geführt wurde, während bei den Katholiken für mich damals eher der prachtvolle Ritus als theatral-spirituelles Erlebnis im Vordergrund stand. Und es ist insofern wohl nur folgerichtig gewesen, dass es mich später beruflich zur Oper hingezogen hat. Denn das Musiktheater vereint ja beides: das theatrale Erlebnis in seiner rauschhaften Wirkung und seiner emotionalen Überwältigungskraft mit der unbedingten Suche nach der Wahrheit im Wort – oder in diesem Fall auch im Notentext. Diese quasi sakrale Dimension der Oper haben Komponisten wie Richard Wagner genau erkannt und schamlos ausgenutzt: Wer beispielsweise einmal die karfreitäglichen Aufführungen der „Parsifal“-Inszenierung von 1957 am Mannheimer Nationaltheater erlebt hat, weiß, dass es sich hier um nichts anderes als einen kaum verkappten Gottesdienst handelt.

 

Und wenn man so will, steht ein Opernhaus wie die Deutsche Oper Berlin heute in der direkten Nachfolge der Simultankirchen, so der korrekte Terminus, der Reformationszeit: Einerseits, weil die Menschen genau mit den gleichen Fragen zu uns kommen, die sie auch an die großen Religionen stellen. Aber auch, weil auf der Bühne jeden Abend andere gesellschaftliche Utopien und Heilswege zur Diskussion stehen: Von der tiefen Resignation angesichts der menschlichen Natur bei Verdi über die Feier des Menschseins mit allen Stärken und Schwächen bei Mozart bis hin zu dem Glauben an die Möglichkeit einer besseren Gesellschaft bei Wagner. Und ebenso wie die verschiedenen Konfessionen in der Stadtpfarrkirche St. Martin zu Biberach haben auch all diese Sichtweisen auf das Leben bei uns ihren Platz. Denn darin liegen der wahre Reichtum unserer Gesellschaft und das wichtigste Erbe der Reformation.

Dietmar Schwarz
Dietmar Schwarz ist Intendant der Deutschen Oper Berlin.
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